Ausgabe 86 / August 2014

Blickpunkt: Vergessen

Foto: Regina BasaranVergessen und Erinnern, zwei Wege, die in ein erfülltes Leben führen

Von Volker Bier

Oh ja, ich bin vergesslich geworden! Die Mitarbeiterin, die verwaltet, organisiert und ordnet und so vieles im Blick haben muss, kann ein Lied davon singen. Bei Freunden und Familie geht es mir ebenso: Ich vergesse!

Vergessen wird in unserer mobilen Gesellschaft zum Schatten – vor allem, wenn wir älter werden. Irgendwo lauert das Gespenst Demenz und raunt: „Irgendwann wirst du nicht mehr selbst über dein Leben bestimmen können. Irgendwann weißt du nicht mehr, wer du bist, mit wem du zusammenlebst …“ Aber damit gerät die selbstregulierende, selbsterhaltende und damit unterstützende Kraft des Vergessens aus dem Blick. Vergesslichkeit schafft ja auch Räume für Wesentliches und kann uns in eine Auseinandersetzung mit einer unbewussten Prioritätenliste zwingen.

Ich möchte Sie einladen, über ein Vergessen nachzudenken, das in einer alten Tradition steht und zu dem über die Jahrhunderte quer durch alle Kulturen und Religionen eingeladen wird. Es geht um das „sich selbst vergessen“. Es geht nicht um das passive Verlieren von Erinnerung, das an uns geschieht, sondern es geht, wenn wir uns selbst vergessen, um ein aktives, waches Loslassen.

Irgendwann weißt du nicht mehr, wer du bist, mit wem du zusammenlebst.

Sich selbst vergessen heißt, das innere Betrachten, Kommentieren und Bewerten hinter sich zu lassen und sich ganz auf das augenblickliche Geschehen einzulassen. Atmen, Essen, Trinken … ein Leben ohne Metaebene im Vordergrund. Sich als Teil des Geschehens erleben. Aufhören, darüber nachzudenken.

Einfach da sein und dem folgen, was ist, fällt alten Menschen oft leichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die stundenlang auf ihrem Sessel in der Wohnküche sitzen konnte, während das Leben von Tochter und Enkeln sich lautstark um sie her ausbreitete. Auch kleine Kinder leben noch in einer Art Magie der Einheit mit allem. Deshalb heißt es wohl auch in der Bibel: „… wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“ Der Unterschied liegt im Grad der Bewusstheit. Sich selbst vergessen ist loslassen und einlassen zugleich.

Es gibt hilfreiche Wege des wachen Vergessens. Viele sind in der Literatur beschrieben. Ein Einstieg kann die „Wolke des Nichtwissens“ (engl.: The Cloud of Unknowing) sein, eine christliche Schrift aus dem Mittelalter. Es ist von Vorteil, sich einen Lehrer oder eine Lehrerin zu suchen. Das ist so ähnlich wie beim Lernen eines Musikinstruments. Aber beginnen kann jeder und jede. Sich einfach hinsetzen, dem Atem folgen, sich nicht bewegen, die Gedanken kommen und gehen lassen – das kann ein Anfang sein.

Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.

Vor vielen Jahren gab es eine Briefmarke mit der Aufschrift: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“. Sie wurde geprägt zum fünfzigjährigen Gedenken an die „Reichsprogromnacht“. Damals habe ich den Text rein historisch gelesen. So als wäre er eine Ermahnung, diesen furchtbaren Teil deutscher Geschichte nicht zu vergessen. Heute ist er mir mehr. Er ist ein Leitsatz jüdischer und damit auch christlicher Kultur. Im Text der Bibel (5. Mose 6) schließt er sich an das Glaubensbekenntnis der Juden an: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, … der uns aus Ägypten geführt hat…“ Es geht also nicht allein um das Erinnern einer gemeinsamen Geschichte, es geht um die Erinnerung an die Befreiung und die Rettung derer, die an Gott glauben. Gott führt aus Ägypten und Gott führt durch die Wüste und Gott offenbart den Platz der Ankunft.

Im Erinnern richten wir uns auf Altes und Bekanntes aus. Und bereiten uns damit in einer Art Auferstehung des Alten auf das Neue vor. Die Erinnerung weckt unser Herz und hilft, dass wir uns neu ausrichten können. Erinnerung korrigiert den Kurs. Und allein darauf kommt es an: worauf wir ausgerichtet sind.

Für Christen gehört zur Erinnerung, dass Gott in seinem Sohn „ja“ gesagt hat in einem unverbrüchlichen Bund mit den Menschen. Ein Ja, das nicht aufhört an unserem Schatten, an Selbstverurteilung oder Bewertung (Mt. 7,1 ff ). Kein Richten – ein Aufrichten. Ein Ja, das einlädt, mit uns selbst und mit anderen in Vergebung zu leben. Die Erinnerung an diesen Weg Gottes führt in eine geheilte Beziehung zu uns und zu anderen und ist so gelebte, erfahrene Erlösung.

Volker Bier, TS Saarbrücken


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