Ausgabe 18 / Dezember 2022

Blickpunkt

Tango
Magie der Berührung

Zusammen mit dem Schmerz, der deine Wunde öffnet,
kommt das Leben und bringt neue Liebe.
Homero Manzi. Desde el Alma

Berlin im Sommer 2006; noch berauscht vom deutschen Sommermärchen radeln wir an der Spree entlang. Leise klingt Musik vom Wasser hoch. Wir halten an und hören Tangoklänge, zu denen sich Menschen auf einem Boot in enger Umarmung bewegen. Eigentlich gehen sie nur. Angezogen von der Stimmung auf dem Boot und der Musik frage ich meinen Mann: „Sollen wir nicht runtergehen? Die gehen doch nur in der Umarmung. Das können wir auch.“

Dies war der Beginn meiner Berührung mit dem argentinischen Tango, der mich bis heute in seinen Armen hält. Tango, das habe ich in den Jahren begriffen, wird nicht nur gespielt oder getanzt. Tango zelebriert ein Lebensgefühl, er ist ein Zustand, der berührt, ein traurigschöner Moment. Tango, tangere: berühren – auch wenn diese Wortwurzel umstritten ist, benennt sie dies, was den argentinischen Tango ausmacht: Berührung – von Musik, von Körpern, von Gefühlen, von Kulturen.

Der Tango stammt vom Rio de la Plata,

dem ausgedehnten Mündungsdelta des Rio Paraná und Rio Uruguay in den atlantischen Ozean. Buenos Aires und Montevideo sind Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die große Hoffnung für einwandernde Menschen aus Europa. Die Realität sieht bitter aus: Wohnungselend, Rechtlosigkeit, Gewalt, Heimweh und Einsamkeit. In diesem Schmelztiegel der Völker und Kulturen kommen gegensätzliche kulturelle Besonderheiten zusammen. Einwanderer aus Deutschland bringen das Akkordeon mit, aus Osteuropa fließen Mazurka und Polka ein, aus Frankreich die Quadrille, ehemalige afrikanische Sklaven steuern ihr rituelles Candombe bei. Vom Río de la Plata stammt die Sprache des Tangos: das “Lunfardo”, eine unverblümte Sprache, die die Sehnsüchte und Nöte, die Bedrängnisse und Begierden artikuliert. Aus der Berührung der verschiedenen Elemente entsteht der Tango; er vereinigt europäische, afrikanische und argentinisch-uruguayische Einflüsse und hat mittlerweile fast die ganze Welt erobert.

2009 wird Tango zum Weltkulturerbe.

Vielleicht auch, weil es in ihm keine heile Welt gibt. Tango ist nicht oberflächlich fröhlich, er gaukelt kein Leben vor, in dem alles ein Happy End hat. Die Trauer, die Sehnsucht, das Heimweh, der Schmerz sind konkret, es gibt keinen Trost.
Es wird nie wieder so, wie es einmal war. Tango lebt die Trauer und die Leidenschaft, die Erinnerung und das Vergessen, den Kitsch und das Gefühl.

Was willst du lernen, Schritte oder Tanzen?

Tango Argentino hat mich gepackt, als Anfängerin genauso wie heute, als erfahrene Tänzerin. Tango ist (m)eine Herzensangelegenheit und ich bin sicher, wer sich wirklich auf ihn einlässt, ist nie fertig damit. Die Sehnsucht, die zum Tango führt, bleibt. Anders als der ihm vorauseilende Ruf ein Machotanz zu sein, ist er eher wie ein Dialog, ein “Beziehungstanz“, zwischen Begegnung und Zurückweisung, Macht und Sensibilität, Führen und Folgen. Tango ist der Versuch einer Vereinbarung von Gegensätzen: eine Mischung aus introvertiertem Miteinander in enger Umarmung und scheinbar nebensächlicher Show. Es gibt keine Choreografien, nur Schrittfolgen, die an jeder Stelle unterbrochen und anders zusammengesetzt werden können. Das erfordert Aufmerksamkeit für die eigene Körperspannung und das Gegenüber, und sich einzulassen, sonst geht der Kontakt verloren! Die Führung erfolgt mit dem Brustkorb, auch als Kommunikationszentrum bezeichnet oder wie es in Argentinien heißt: Von Herz zu Herz!

Die Oberkörper sind meist in enger Umarmung miteinander verbunden, wobei die Umarmung und das Gehen die Bedingung des Tango Argentino ist. Wenn das gelingt, berühren sich zwei Seelen. Die Berührung setzt sich im Akustischen fort. Die Musik gibt Spielraum für eigene Interpretationen und Improvisationen, und wird nie langweilig. Im Gegenteil, je öfter ich einen Tango höre, desto mehr entdecke ich in ihm und freue mich über die Bewegung – und Berührungsimpulse, die mein Körper mir ohne mein bewusstes Zutun schenkt.

Der Tango birgt wie alles Wahre ein Geheimnis.
Jorge Luis Borges

 

Birgit Knatz

Birgit Knatz
TelefonSeelsorge Hagen-Mark, Chefredakteurin und Tangotänzerin

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