Ausgabe 21 / Dezember 2023

Blickpunkt

TABU

Ausgabe 21 – Dezember 2023 | Januar | Februar | März 2024

In Mitmenschlichkeit „verheddert“


„Kann man mit Ihnen über alles sprechen?“ So einfach wie die Frage ist die Antwort: „Ja.“ Zugleich muss aber immer ergänzt werden, dass es in Ordnung ist, Gesprächsanliegen abzulehnen, die nicht unserem Selbstverständnis als Seelsorge- und Beratungseinrichtung entsprechen. Nicht jeder Auftrag von Anrufenden muss von uns angenommen werden. Aber gehört zu TelefonSeelsorge tatsächlich, dass dort alle Sorgen und Nöte zum Thema gemacht werden können? Reicht hierfür die klassische Unterscheidung zwischen Anliegen bzw. Auftrag und Thema aus? Gibt es Tabuthemen, die wir persönlich lieber meiden? Auf die wir vielleicht erst dann stoßen, wenn Anrufende sie mit uns besprechen möchten?

Schnell fallen Masken

Wer sich an die TelefonSeelsorge wendet, weiß um die zugesicherte Anonymität, die Vertraulichkeit des Kontakts und erfährt, wie schnell Nähe entstehen kann. Die stimmliche Präsenz am Telefon, das Lauschen auf den Atem des Gegenübers, jedes Schlucken, manchmal auch Schluchzen, schaffen rasch Vertrauen und Intimität. In Mailwechseln entsteht durch empathische und zugewandte Schreibweise eine Nähe und Offenheit, wie sie die  Ratsuchenden sonst vielleicht nur von guten Freundinnen oder Freunden kennen. Schnell können Masken fallen und in großer Ehrlichkeit Themen angesprochen werden, die in anderen Zusammenhängen eher schamhaft verschwiegen würden. Am Telefon sind wir mit Inhalten konfrontiert, die in der Gesellschaft häufig tabuisiert sind.

Vielleicht geht es mir ja nur als Mann und Telefonseelsorger so – aber vor allem explizite sexuelle Inhalte scheinen mir in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen und auch Beratungskontexten stärker tabuisiert zu sein und selbst in der Sexualtherapie nicht so schnell und so offen kommuniziert zu werden. Beglückende, aber auch frustrierende sexuelle Erlebnisse werden am Telefon konkret benannt und geschildert, auch wenn für das Verständnis der Situation eine abstrakte Bezeichnung reichen würde.

Hinter der deutlichen, plastischen Sprache steht die emotionale Betroffenheit: Die Anruferin will mitteilen, welch großes Glück oder welch große Demütigung sie in ihrer Beziehung erlebt hat. Im Kontakt mit der TelefonSeelsorge gibt es da kein Tabu für sie. „Alles sagen zu können“ wirkt für sie befreiend und selbstvergewissernd. „Alles zu sagen“ bedeutet: Die Tatsache, sich offen mitteilen zu können, die Art und Weise, wie das Thema besprochen wird, rückt in den Mittelpunkt der seelsorglichen Beziehung. Die Anruferin versteckt sich und ihre Emotionen nicht hinter wohlgesetzten Worten und  Fachausdrücken aus dem Lateinischen. Sie stellt nicht fest: „Mein Mann hat Potenzprobleme.“ Sondern  sagt: „Der  bekommt schon lange mehr keinen hoch im Bett und ich
soll dann …“

Die Schilderung will die Wut, den Hass, die Empfindung eigener Unzulänglichkeit oder auch die Trauer in Worte
fassen. In Formulierungen, die Tabus verletzen können, werden die Tiefe und emotionale Wucht deutlich, die das Thema mit sich bringt. Ob der Telefonseelsorger das alles so genau wissen möchte und wie es ihm dabei geht, ist der Anruferin in diesem Moment nicht wichtig. Ihr Anliegen ist, das ihr jemand zuhört und sie ernst nimmt, dass sie sich mit dem, was in ihr ist, einem anderen Menschen zumuten darf. Sie will dem Telefonseelsorger oder der Telefonseelsorgerin nicht Bilder aufdrängen , die er oder sie möglicherweise als unangenehm empfindet. Ihr Anliegen ist kein Sexanruf. Weil sie in ihren Emotionen verstanden werden will, tritt der Gesprächs-
inhalt – unabhängig von der Wortwahl, mit der er vorgetragen wird – für den Seelsorgekontakt in den Hintergrund.

Hass ist ein weiteres wichtiges Thema am Telefon. Leichthin wird gesagt „Ich hasse das“. Auch wenn es nur darum geht, dass jemand etwas nicht mag. Diese inflationäre Verwendung hat mit echtem Hass wenig zu tun. Wirklicher Hass erschreckt das Gegenüber. Wem davon erzählt wird, der will sich schnell abwenden oder das Gefühl bagatellisieren. Es kann sein, dass wir zu hören bekommen, wie sehr Anrufende die Mutter, den Chef oder den Bruder hassen, wie tief ihre Abscheu ist. Vielen Telefonseelsorgekolleginnen und -kollegen fällt es schwer, mit solch geballter Aggression umzugehen. Sie wehren die Massivität des Gefühls ab, suchen zu beschwichtigen, gleiten in Ratschläge oder Moralisierungen ab. Als Gesellschaft erleben wir immer mehr, wie Hass und Wut auf Politiker und Politikerinnen – auf „die da oben“ – wachsen und sich in brutalen Taten entladen. Doch gibt es kaum einen ernsthaften Diskurs, der das Phänomen des Hasses verstehbar macht und kanalisieren hilft. Es ist nicht leicht, mit Hass umzugehen. Er entzieht sich der Rationalität. Am Telefon kann der Hass benannt werden, ohne dass Anrufende sich dafür schämen müssen. Wem sonst können sie erzählen, welch tiefe Abneigung sie empfinden, welche Vernichtungsphantasien in ihnen stecken? TelefonSeelsorge bedeutet oft Teilhabe an stark tabuisierten Geheimnissen, die andernorts unerzählbar sind.

Selbst tabu werden

In den Kulturen, aus denen das Wort „tabu“ stammt, wird der Mensch, der ein Tabu verletzt oder sich mit einer Person abgibt, die tabu geworden ist, selbst tabu. Er wird aus der Gruppe ausgesondert. Ein Tabu ist gleichsam ansteckend. Wenn sich Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorger auf Tabus einlassen, die Anrufende gebrochen haben, werden sie dann selbst tabu?

In modernen Gesellschaften sind Tabus nicht über die Religion legitimiert, sondern säkulare gesellschaftliche Konstruktionen. Was ein Tabubruch ist, wird an der Reaktion der Gesellschaft erkennbar. Lässt sich TelefonSeelsorge auf solche Tabubrüche ein und macht sich nicht zur Hüterin von Tabus – „So genau will ich das gar nicht wissen“ – wird sie wie in anderen Gesprächen in die Lebenswirklichkeit der Anrufenden hineingenommen. Nicht real, sondern in der Art und Weise des „Als-ob“: als ob wir die Welt mit den Augen und Ohren der Anrufenden erleben würden. Wir sind dann bereit, uns in Mitmenschlichkeit „verheddern“ zu lassen, wie der Moraltheologe Volker Eid das genannt hat. Die Teilhabe am Tabu verändert. Insofern werden Telefonseelsorger und Telefonseelsorgerinnen selbst tabu. Sie werden nicht einfach Geheimnisträger, sie werden Zeugen und Zeuginnen des Leids der Ratsuchenden. TelefonSeelsorge kann und soll tabufrei sein. Nicht, indem sie selbst Tabus bricht und Ratsuchende überfordert, sondern indem sie einen Raum anbietet, in dem Tabus von Ratsuchenden nicht eingehalten werden müssen, wenn es um ihre Nöte geht. Unsere Aufgabe ist dann, das Genannte zu bewahren, es zu halten oder zu „containen“, ohne in Bewertungen zu verfallen. In diesem Bewahren wird TelefonSeelsorge dann tabu, weil sie sich vom Leid berühren lässt und damit ein Gegenstück zu einer Gesellschaft bildet, die sich durch Tabuisierungen die Not vom Leib hält. Bei all dem geht es nicht um Grenzverletzungen zwischen Ratsuchenden und Telefonseelsorgerinnen oder Telefonseelsorgern. Tabufreiheit verlangt gerade das Achten eigener und fremder Grenzen.

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