Blickpunkt
LESEN
Lucy und die Buchstaben
Ausgabe 19 – April | Mai | Juni | Juli 2023
Früher arbeitete Lucy in einer Keksfabrik. Sie war 30 Jahre am Band! Seit einem Jahr ist sie berentet und putzt bei uns. Finanziell hatte es nie gereicht. Sie musste immer dazu verdienen. Lucy kann nur wenige Worte lesen, ihre Schulbildung war mit dem Besuch einer Förderschule beendet. Danach hat niemand mehr gefragt, ob sie zurechtkommt oder vielleicht weiter lernen will. Lange hat sie sich geschämt, dass sie mit Buchstaben nichts anfangen kann. Nicht lesen zu können ist ein großes Tabu. Lucy konnte sich gut herausreden: Mal hatte sie die Brille vergessen, mal die rechte Hand verbunden, wenn es etwas auszufüllen galt. So mogelte sie sich durch. War sie eingeladen, bestellte sie stets das Gleiche, sie ging nur bekannte Wege.
Schwerer auszuhalten waren die Mitteilungen aus der Schule der Tochter. Lucy war oft die Letzte, die auf die Infos reagierte. Zum Glück war Tochter Katja ein braves Kind. Bald las sie die Nachrichten aus der Schule der Mutter vor. Irgendwann fand Lucy den Mut und erzählte ihr Handicap der Klassenlehrerin. Die war sehr verständnisvoll und vermittelte sie an die Volkshochschule, da traute sich Lucia noch nicht hin.
Dies alles erzählte sie uns beim ersten Gespräch. Sie ist jetzt 64 Jahre und eine funktionale Analphabetin.
7,5 Millionen Menschen (Leo-Studie 2019) in Deutschland sind funktionale Analphabetinnen und Analphabeten. 12,1 % der Erwerbstätigen können nur unzureichend lesen und schreiben. Weitere 10,8 Millionen oder 20,5 % der Erwachsenen schreiben stark fehlerhaft, selbst bei gebräuchlichsten Wörtern.
Wir alle schwimmen in einem Meer von Symbolen, die es uns erlauben, mit anderen zu kommunizieren, Teil einer kulturellen Gruppe zu werden und uns auszudrücken. Zu den Symbolen zählen alle Systeme einer Kultur wie Sprache, Zahlen und Schrift, Icons, Verkehrszeichen, religiöse Regeln und Rituale sowie Muster. Analphabetinnen und Analphabeten fehlt zu diesen Systemen der Schlüssel.
Wenn Sie sich vorstellen, dass Sie in dieser Welt nicht lesen und schreiben könnten, so befänden Sie sich in einem Alptraum, der leider für viele Menschen ein Leben lang anhält. Diese können zwar einzelne Worte entziffern, aber keine zusammenhängenden Texte lesen.
Von ihrer Umgebung werden sie meist für dumm gehalten, und sie halten sich selbst für dumm. Sie sind im Alltag mit vielen Hürden konfrontiert, oft sozial isoliert und finanziell in einer ausweglosen Situation. Sie sind ausgeschlossen aus der Welt der Bücher, ausschließlich verwiesen auf das für sie Sichtbare und Be-greifbare und abhängig von der Interpretation anderer. Geschichten über das Leben und das Wissen um die Dinge werden in Büchern aufbewahrt und entziehen sich der unmittelbaren Erfahrung. Die Neugier, die Kinder zu entdeckendem Lernen motiviert, ist durch frühe Misserfolge ausgebremst. Aus leseschwachen Kindern werden oft nicht lesende Erwachsene, die jeden Umgang mit der Schrift vermeiden.
Literacy ist die Schlüsselkompetenz
Im Englischen hat sich für diese Grundkompetenz der Begriff Literacy herausgebildet. Es gibt dafür kein deutsches Wort. Literacy nur mit Lese- und Schreibkompetenz zu übersetzen, wäre bei weitem zu kurz gegriffen. Gemeint sind die frühen kindlichen Erfahrungen und Kompetenzen rund um Buch-, Erzähl-, Reim- und Schriftkultur. Dazu gehören neben Lesen und Schreiben Textverständnis und Sinnverstehen, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude und der Umgang mit Büchern; auch die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, und das Verständnis für literarische Sprache. Literacy ist heute die Schlüsselkompetenz, fehlt sie, bleiben die meisten Räume für diejenigen, die nicht lese-, schreib- und mediengebildet sind, verschlossen.
Nach einer Definition der UNESCO gilt als Analphabetin und Analphabet, wer nicht in der Lage ist, eine einfache Bemerkung über das Alltagsleben verstehend zu lesen und zu schreiben. Weltweit gibt es etwa 750 Millionen (Stand 2019), fast 2/3 sind Frauen und Mädchen. Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Armut sind meist die Ursache, weshalb vor allem Frauen von literaler Bildung ausgeschlossen sind.
Durch die Schulpflicht gibt es in Deutschland kaum mehr Kinder, die den Buchstaben gar nicht begegnen. Funktionaler Analphabetismus ist häufig ein Ergebnis von Bildungsferne. Zuhause gibt es keine Bücher, niemand liest den Kindern vor. Die Welt der Geschichten ist verschlossen. Die Eltern werden nie als lesende Erwachsene erlebt. Oft sind die Kinder schon in der Grundschule entmutigt. Leseschwäche ist meist auch der Grund für ein fehlendes Textverständnis in Mathematik. Die Lücken werden immer größer, von der Schule bekommen die Kinder keine weitere Förderung in der Grundkompetenz des Lesens.
Was das Fehlen literaler Kompetenzen für die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft bedeutet, kann man sich vorstellen. Lucy hatte keine Möglichkeit, eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Sie hat noch nie eine Bewerbung geschrieben. Ihr war klar, dass ihr Unvermögen, Texte zu verstehen, sie von betrieblicher Weiterentwicklung ausschloss. Nach mehreren enttäuschenden Versuchen, sich selbst das Lesen beizubringen, war sie in hohem Maße frustriert.
Das Scheitern, der Frust und das mangelnde Selbstwertgefühl und die damit verbundene gesellschaftliche und wirtschaftliche Benachteiligung werden vielfach an die nachfolgende Generation „weitervererbt“. Heute entscheidet die Kompetenz in Literacy mehr über die soziokulturelle Teilhabe als Herkunft, Einkommen oder Schichtzugehörigkeit. Eltern, Pädagogen und Wissenschaftlerinnen betrachten Literacy als Schlüssel zum Erfolg der Kinder.
Lesen beginnt mit der Geburt
Der Erwerb von Literacy beginnt am ersten Tag unseres Lebens. Schon da lesen wir: Aus den Gesichtern der Eltern Freude, Gleichgültigkeit oder Angst. Wir entschlüsseln das Lächeln der Erwachsenen, schon Babys belohnen die neugierigen Blicke der anderen Kinder mit verdichteter Aufmerksamkeit. Bereits vor Beginn der Grundschulzeit machen Kinder erste schriftsprachliche Erfahrungen. Bestimmte Wörter – wie der eigene Name – werden als Ganzes abgespeichert. Die Kinder speichern ein Wort als Logo ab und können es benennen. Sie erfahren, dass man mit bestimmten Zeichen etwas festhalten kann.
Literacy von der Geburt bis zum Alter von sechs Jahren ist eine komplexe und hoch entwickelte Erweiterung kommunikativer Fertigkeiten und gesprochener Sprache. Kommunizieren, Sprache, Sprechen und Geschichten stellen dabei den Unterbau.
Funktionale Analphabetinnen und Analphabeten machen diese Erfahrungen weniger bis gar nicht. Meist wachsen sie in einem schriftfremden Umfeld auf. Gerade in den ersten Lebensjahren ist der gemeinsame Umgang mit Büchern zwischen Kindern und Eltern sehr wichtig. Die Hälfte der Erstklässler kann bei Eintritt in die Schule bereits ein wenig lesen und schreiben. Die meisten Kinder lernen es bis spätestens zum 3. Schuljahr: In Deutschland gilt man dann als alphabetisiert. Von da an wird vorausgesetzt, dass ein Kind das Alphabet beherrscht, dass es Texte lesen, verstehen und selbst schreiben kann. Kinder, die das Lesen bis zur dritten Klasse nicht lernen, holen es selten auf.
Die Bundesregierung hat mittlerweile viele Programme aufgelegt, um die Lesekompetenz zu stärken. Lucy hat sich mit ihrer Schwäche abgefunden. Sie kommt in ihrem Leben einigermaßen zurecht. Sie hat alles darangesetzt, dass Tochter Katja einen mittleren Bildungsabschluss machen konnte. Jetzt liest Katja ihr ab und zu vor und es gibt auch Bücher im Haus.
LITERATUR
Marian R. Whithead: Sprache und Literacy von 0-8 Jahren. Bildungsverlag 1, Troisdorf 2002
Marie Luise Rau: Literacy – Vom ersten Bilderbuch zum Erzählen, Lesen und
Schreiben, Haupt Verlag, Bern-Stuttgart-München, 2. Auflage 2009
Inge Pape
TelefonSeelsorge Darmstadt, Mitglied der Redaktion
Ausführlicher Blick ins Heft:
Per Klick aufs Bild öffnet sich ein neues Fenster mit der Möglichkeit, in der Ausgabe zu blättern.