Blickpunkt
Übergang
Ausgabe 20 – August | September | Oktober | November 2023
„Sich fremd gehen“ beim Pilgern
Zeitgenössisches Pilgern übernimmt eine völlig neue Funktion: War es früher Ausdruck einer
selbstgewissen Glaubenshaltung, so ist es heute eine Suchbewegung
Beim Pilgern kommen Pilgernde in Kontakt mit Fragen, die sie – gerade auch in Übergängen der eigenen Biographie – unsichtbar im Gepäck haben.
Pilgern ist keine christliche Erfindung. Es ist älter und hat seinen Platz in allen großen Religionen. Im Hinduismus und Islam besitzt es einen herausragenden Rang und gehört zur elementaren Glaubenspraxis. Allen Formen des Pilgerns gemeinsam ist die Überzeugung, dass bestimmte Orte mit einer besonderen Präsenz Gottes aufgeladen sind. Dort ist heiliger Boden. Die Menschen machten sich auf, um Gott „entgegenzugehen“ oder ihm an einem bestimmten Ort zu begegnen.
Pilgern hatte stets ein festes Ziel. Wer loszog, befand sich mitunter in einer schwierigen persönlichen Lage, der Glaube stand dabei nie auf dem Spiel. Heute boomt Pilgern mehr denn je. Knapp 440 000 Menschen haben sich im Jahr 2022 allein im Pilger*innen-Büro in Santiago de Compostela (Spanien) registrieren lassen. Nochmal so viele werden auf unterschiedlichen Wegen in Spanien in Etappen unterwegs sein, die Zahlen von den „Wegen der
Jakobspilger*innen“ in anderen Ländern sind nicht bekannt. Vom Olavsweg in Norwegen, vom Haervejen in Dänemark, dem St. Cuthbert´s Way in Nordengland und den vielen anderen Wegen europaweit reden wir da noch gar nicht.
Zeitgenössisches Pilgern übernimmt eine völlig neue Funktion: War es früher Ausdruck einer selbstgewissen Glaubenshaltung, so ist es heute eine Suchbewegung. Pilgern ist zu einer existenziellen Grenzerfahrung und Grenzbewegung in persönlichen Umbruchsituationen geworden.
„Zu dir oder zu mir?“ – diese Frage kann man auf ganz andere Weise als gewohnt auch beim Pilgern stellen. Pilgerinnen und Pilger machen sich immer auf eine innere und eine äußere Reise. Zur äußeren Reise gehören passende Schuhe, Rucksack, Pilgerpass und Pilgerführer. Die innere Reise, die Pilgernde machen, ist weniger klar und deutlich beschreibbar. Da geht es um Vertrauen und Begegnung. Pilgernde begegnen auf ihrem Weg anderen Pilgernden, sie begegnen Gastgebenden, sie erleben fremde Sprache und Kultur. Es sind oft gerade diese Begegnungen, die Pilgernde in Begegnung mit sich selbst führen. „Zu mir!“ heißt da die Antwort. Unerledigte Fragen, Verdrängtes, Träume, Sehnsüchte können unterwegs auftauchen. Pilgernde geraten an körperliche und manchmal auch psychische Grenzen und erfahren dabei ihre Bilder vom Leben – manchmal ganz neu. Taugen diese Bilder eigentlich noch? Oder engen sie mich ein? Diese innere Reise „zu mir“ ist ein komplexer, ein spiritueller Prozess. Es ist ein Werden und Wachsen von Teilen meiner Persönlichkeit, die im bisherigen Leben eher wenig Raum hatten.
Beim Pilgern kommen Pilgernde in Kontakt mit Fragen, die sie – gerade auch in Übergängen der eigenen Biographie – unsichtbar im Gepäck haben. Es sind Fragen nach dem bisherigen Lebensweg und Fragen an die eigene Zukunft. Wie soll ich mein Leben weiter gestalten? Wie wird das sein, wenn ich nicht mehr täglich ins Büro gehe, sondern Zuhause bin? Wie geht es mit unserer Beziehung weiter? Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht mehr im Beruf bin? Bin ich noch etwas wert, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Mann mich verlassen hat? Soll ich mich trennen oder haben wir zwei nochmals eine Chance? Wer bin ich jenseits meiner Rollen und Pflichten? Gibt es Heilung für mich?
Es ist gut, wenn diese Fragen beim Pilgern hochkommen – denn dann sind sie offenbar dran. Die Begegnung mit sich selbst kann einen klärenden, man könnte auch sagen reinigenden Charakter haben. Diese (inneren) Prozesse können durchaus schmerzhaft sein. Heilung gibt es nie ohne Wunden. Pilgernde berichten nach ihrer Rückkehr von segensreichen Momenten unterwegs. Der Weg macht etwas mit ihnen.
Pilgernde sind nie allein auf dem Weg. Immer schon sind andere vor mir gegangen, gehen mit, sind vor mir losmarschiert. Menschen wohnen am Weg. Da sind Begegnungen mit Menschen, die mich vielleicht herausfordern oder anfangs gar nerven, wenn wir in Herbergen immer wieder aufeinander treffen. Es sind Menschen, denen ich zuvor noch nie im Leben begegnet bin, sie sind mit mir gemeinsam unterwegs. Die eine oder andere Wegstrecke gehen wir gemeinsam, kommen ins Gespräch: „Warum bist du unterwegs?“ Es entstehen tiefgreifende Gespräche, wir tauschen aus, was wir vielleicht sonst nur einer guten Freundin oder einem guten Freund mitteilen würden. Wir wissen ja: Wir werden uns nicht wiedersehen.
Menschen, die von einer mehrwöchigen Pilgerwanderung zurückkehren, stellen oft fest, dass sie sich verwandelt haben. Sie sind sich während des Pilgerns selbst neu begegnet, haben Menschen getroffen, die ihnen wichtig geworden sind, und haben etwas erlebt und erfahren, dass sie in Kontakt mit der Lebendigkeit gebracht hat, die in ihnen schlummerte oder gar verschüttet war. Pilgernde können starke Befreiungserfahrungen machen und mit sich selbst wieder ganzheitlich neu erleben. Dabei ist eine besondere Erfahrung, auch den eigenen Körper wieder neu zu spüren. Der Körper wird auch besonders gefordert – manchmal bis über die Grenze hinaus, bis zum Äußersten.
Der evangelische Theologe Detlef Lienau hat einen wunderbaren Begriff für das Pilgern gewählt: „sich fremd gehen“. In diesem Begriff spiegelt sich die Erfahrung des Andersseins wie auch die Erfahrung der Entfremdung von sich selbst, der umgebenden Welt und vielleicht auch von Gott. Pilgernde gehen aus dem Gewohnten, dem täglichen „Einerlei“ fort, auch aus der Enge von Rollen, Zwängen und Pflichten, und können sich unterwegs neu erleben. Die meisten Pilgernden erleben auf dem Weg irgendwann einen „Flow“: Auf einmal geht es sich ganz leicht, und du bist nur noch Gehen. Das sind pure Glücksmomente. Der Entdecker des Flow, Mihaly Csikszentmihalyi, verortet dieses Phänomen unter den spirituellen Erfahrungen. Es ist das Fließen der Lebendigkeit im Einssein mit sich selbst. Pilgern ist Begegnung mit den Lebensenergien, den Möglichkeiten, aber auch den Grenzen des eigenen Lebens. Zu Beginn des Pilgerweges kreisen viele meist nur um sich selbst, doch die Erfahrung, sich jemandem zuzuwenden, um zuzuhören, sich im Gespräch zu verbinden oder einfach das Essen miteinander zu teilen, stärkt eine ganz besondere Erfahrung: Pilgernde erleben sich als Teil einer lebendigen, schönen Gemeinschaft. So verstanden ist Pilgern eine spirituelle Übung – und dies (nicht nur) in Übergängen.
Michael Schaar
hat als Leiter des Pilgerzentrums St. Jakob, Zürich, von 2016-2022 viel Erfahrung mit Pilgerreisen gesammelt und macht sich im November 2023 mit Seelsorger*innen aus TelefonSeelsorge-Stellen in Bayernauf den „Camino Inglés“ in Spanien.
Literatur
Franz Alt/Bernd Lohse/Helfried Weyer, Aufbruch zur Achtsamkeit. Wie Pilgern das Leben verändert,
Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2016
Mihaly Csikszentmihalyi, Flow. Das Geheimnis des Glücks,
Stuttgart: Klett-Cotta 2017
Anselm Grün, Der Weg wächst unter deinen Füßen,
Münsterschwarzach: Vier Türme Verlag 2016
Uwe Habenicht, Draußen abtauchen. Freestyle Religion in der Natur, Würzburg: Echter Verlag 2022
Michael Kaminski, Pilgern mitten im Leben:
Wie deine Seele laufen lernt,
Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2016
Ders., Pilgern quer durch´s Jahr: 12 Wege für die Seele,
München: Claudio 2019
Detlef Lienau, Sich fremd gehen: Warum Menschen pilgern,
Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2009
Ausführlicher Blick ins Heft: