Ausgabe 17 / August 2022

Blickpunkt

Gerechtigkeit

Ausgabe 17 – August | September | Oktober | November 2022

Die Antwort des Juristen

 
Schon oft gehört oder gelesen: „Mein Anwalt hat fast nichts gesagt und sich nach dem Termin so freundlich mit der anderen Anwältin unterhalten. Alle waren gegen mich. Das ist nicht gerecht.“ – „Die Richterin, diese Paragrafenzicke, hat immer nur in den Akten geblättert und wollte von mir gar nicht wissen, was ich von meinem Betreuer halte.“ – „Jetzt haben sie mir meine Tochter genommen. Das kann doch nicht gerecht sein!“

Augenscheinlich tun sich viele Menschen schwer, die Rechtslage zu verstehen und das Verhalten der Organe der Rechtspflege richtig einzuschätzen. Das eigene Verständnis von dem, was man als rechtlich zutreffend und angemessen ansieht, ist nicht deckungsgleich mit dem, was der Rechtslage entspricht oder von der Maschinerie des Rechtsstaates produziert wird.

Unsere Mischung aus Gesetzes- und Richterrecht ist nicht leicht zugänglich. Gesetzestexte sind oft verschachtelt und müssen, um verstanden zu werden, zerlegt werden wie eine Sentenz im Lateinunterricht. Unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. „erforderlich“, „angemessen“) werden als bewusster Verzicht auf eine klare Regelung, die man als notwendig ansieht, wahrgenommen. Die Gesetzessprache wirkt oft altertümlich und erweckt dadurch den Eindruck, dass auch der Gesetzesinhalt nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Richterrecht wird als Willkür angesehen und provoziert die Frage: In welchem Gesetz steht das eigentlich geschrieben?

Diese Erklärungen sind aber nicht der Auslöser für das fehlende Verständnis unserer Ratsuchenden. Es ist die persönliche Betroffenheit, das Gefangensein in den eigenen Gefühlen und Hoffnungen, das eine objektive Einschätzung so erschwert. Wie soll eine psychisch schwer erkrankte Mutter verstehen, dass sie ihre zweijährige Tochter gemäß Gerichtsbeschluss nur selten sehen darf? Die Mieterin der vermüllten Wohnung ist sauer auf das Gericht, ihren Anwalt und ihren Betreuer, wenn sie die Kündigung und die Räumung ihres Zuhauses hinnehmen muss. Ein Ratsuchender versteht die Welt nicht mehr, wenn der eigene Anwalt nur die nach der Prozessordnung vorgesehenen Anträge stellt – und sonst nicht viel sagt. Dass in den Schriftsätzen des Anwaltes alles Wichtige steht und vom Richter auch gelesen wurde, versteht der Ratsuchende nicht. Er vermisst, dass der Gegner durch den eigenen Anwalt im Gerichtssaal so fertiggemacht wird, wie er es aus Fernsehserien kennt.

Wie soll man den Ratsuchenden gerecht werden? Selbst aktiv zur Klärung der Rechtslage beitragen zu wollen, scheidet aus vielen Gründen aus (z.B. das ausdrückliche Verbot der Rechtsberatung im Vertrag mit dem Träger der TelefonSeelsorge). Manchmal gebe ich den Hinweis, dass die Ratsuchenden sich überlegen könnten, einen Anwalt zu konsultieren – tiefer steige ich nicht ein. Meist aber führe ich als TelefonSeelsorger das Gespräch mit der Frage fort: „Was könnte Ihnen helfen, mit dieser für Sie so schwierigen Situation besser fertig zu werden?“

Neben der Befangenheit, die aus dem eigenen Betroffensein resultiert, gibt es einen weiteren Grund für das Auseinanderfallen von objektiver Rechtslage und eigenem Rechtsverständnis – mutmaßliche Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz. Jeder von uns wird tagtäglich mit Sachverhalten konfrontiert, die eine vergleichende Betrachtungsweise nahelegen. Oft lassen wir uns dann zu der spontanen Äußerung hinreißen: „Das ist aber ungerecht!“ Ursache hierfür ist die Wahrnehmung oder zumindest das Empfinden, dass Ungleichheiten bestehen, die wir nicht akzeptieren. Dabei geht es gar nicht immer um Recht und Gerechtigkeit, wenn wir die Wörter „gerecht“ oder „ungerecht“ verwenden.

Im Kopf läuft dabei zweierlei ab. Im ersten Schritt wird die Ungleichheit wahrgenommen. Es wird ein Unterschied festgestellt, ein Anderssein – oft bei ganz banalen Dingen des Alltags („Grundnahrungsmittel kosten im Supermarkt deutlich mehr als noch vor einigen Wochen“). Mit dem Feststellen des Unterschiedes ist es aber nicht getan. In einem weiteren Schritt wird die Frage gestellt, ob der Unterschied zurecht besteht. Frage und Antwort richten sich an die eigene
Person. Es erfolgt eine Wertung, die sich an den eigenen Vorstellungen orientiert. Besteht zu diesen ein Widerspruch, erscheint die unterschiedliche Behandlung als nicht gerechtfertigt. Vereinfacht gesagt: Ungleichbehandlungen werden dann als ungerecht empfunden, wenn sie nicht konform mit unseren eigenen Wertvorstellungen sind. Diese Wertvorstellungen sind jedoch nicht zwangsläufig identisch mit denen unserer Mitmenschen – ein Thema, das uns am Telefon aus dem Kontakt mit den Ratsuchenden sehr vertraut ist. Und sie sind nicht immer identisch mit dem Wertesystem unseres Staates, das durch Rechtsnormen festgelegt ist.

Die vergleichende alltagsweltliche Betrachtungsweise wird, was durchaus nachvollziehbar ist, auch auf Rechtsfragen angewandt. Ist es gerecht, dass das Finanzamt dem reichen Unternehmer eine Steuerstundung gewährt, mir armen Teufel aber nicht? Kann es gerecht sein, dass mir wegen Alkohol am Steuer die Fahrerlaubnis genommen wurde, aber nicht dem Nachbarn, der kürzlich ebenfalls alkoholisiert erwischt wurde? Ganz so einfach ist es aber nicht. Eine unterschiedliche Behandlung ist möglich – und auch gerecht –, wenn für die Differenzierung ein sachlicher Grund besteht. Bezogen auf die beiden Beispiele: Vielleicht ist der Unternehmer unverschuldet in einer wirtschaftlichen Notlage. Und der Nachbar hatte weniger Promille.

Es geht also letztlich um das eigene Unvermögen, wahrgenommene Unterschiede auch richtig einzuordnen. Unsere eigene Einordnung führt nicht immer zum richtigen Ergebnis. Dass Ungleichheiten im Einzelfall berechtigt sein können und deshalb hinzunehmen sind, verletzt unser natürliches Gerechtigkeitsempfinden und beeinträchtigt unser Rechtsverständnis. Es betrifft uns alle, nicht nur die Ratsuchenden am Telefon oder im Chat.

 

Rudolf Althanns
ehrenamtlicher Mitarbeiter der Katholischen TelefonSeelsorge München und Jurist

Ausführlicher Blick ins Heft:

Per Klick aufs Bild öffnet sich ein neues Fenster mit der Möglichkeit, in der Ausgabe zu blättern.