Blickpunkt
Familiensache
GESCHWISTER:
MITEINANDER/GEGENEINANDER
Ausgabe 22 – April | Mai | Juni | Juli 2024
Eine Anruferin bei der TelefonSeelsorge ist unglücklich, weil sich die Beziehung zu ihrer Schwester verändert hat. Bisher war alles so selbstverständlich, weil sie sich zusammen mit ihrer Schwester um die demente Mutter gekümmert hat. Nun ist die Mutter gestorben, und die Beziehung muss auf neue Beine gestellt werden.
Das kann ich gut nachvollziehen, denn mir ging es ähnlich. Der Kontakt zu meinen beiden Schwestern (ich bin die älteste) war konstant, solange wir uns gemeinsam um unsere Mutter gekümmert haben. Die Aufgaben waren verteilt: Eine von uns besuchte die Mutter regelmäßig, die andere erledigte die Schreibsachen, die dritte rief fast täglich an. Dies alles ging nicht problemlos. Es wurde aufgerechnet – wer hatte mehr Zeit und Geduld investiert? Bei der Frage nach der Wohnsituation für unsere Mutter wichen unsere Meinungen stark voneinander ab, und unsere Gespräche waren von gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Ich sehnte mich danach, irgendwann nicht mehr durch die Umstände verpflichtet zu sein, mich ständig mit meinen Schwestern auseinanderzusetzen.
Und wirklich wurde der Kontakt nach dem Tod der Mutter zunächst spärlicher. Vermutlich mussten wir uns erst einmal neu sortieren. Ich fragte mich, was meine Schwestern mir bedeuten, und besonders mit der mittleren kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, die für einige Wochen zu einer Funkstille führte.
Doch dann vermisste ich meine Schwester. Es stellte sich eine schwer zu definierende Sehnsucht danach ein, den Kontakt wieder aufzunehmen. Eine Beziehung abbrechen zu einem Menschen, zu dem ich seit über 60 Jahren eine Verbindung habe? Wer kennt mich so lange und so gut wie meine Schwester, ist Zeugin meines familiären Hintergrunds? Diese Fragen machten mich schlaflos, bis ich den ersten Schritt tat und wir uns wieder trafen. Die Erleichterung war bei uns beiden deutlich spürbar. Wir mussten nicht viel diskutieren und abrechnen, um wieder ins Gespräch zu kommen. Das Vertraute war wieder da.
Was macht Geschwisterbeziehungen so besonders?
Der Schweizer Psychologe Jürg Frick beschäftigt sich schon seit 25 Jahren mit dem Thema, das lange stiefmütterlich behandelt wurde. Man kann seiner Meinung nach nicht eine Nichtbeziehung zu Geschwistern haben. Ein breites Spektrum von Emotionen kommt ins Spiel, wenn es um das Verhältnis von Geschwistern zueinander geht: von Liebe, Intimität und Loyalität über Gleichgültigkeit bis hin zu Eifersucht, Konkurrenz, Ablehnung oder Hass.
Brüder und Schwestern dienen als Projektionsfläche und stellen somit ein Trainingslager für die Persönlichkeitsentwicklung dar. Kinder können sich in ihrem Sozialverhalten ausprobieren, sich abgrenzen, lernen, zu streiten und Kompromisse zu schließen. Durch das gegenseitige Betreuen der Geschwisterkinder kann sich die Fähigkeit zur Fürsorge entwickeln. Wettbewerb und Vergleich können zum Entwicklungsmotor werden. Die Kompetenzen von jeweils Älteren werden durch den Teaching-Effekt (Lernen durch Lehren) vorangetrieben.
Doch es muss nicht immer in die positive Richtung gehen. Toxische Geschwisterbeziehungen, in der Rivalität den Alltag bestimmt, können in Mobbing und Gewalt ausarten und den Selbstwert nachhaltig negativ beeinflussen.
An dieser Stelle spielen die Eltern eine wichtige Rolle. Sie können die Möglichkeit der Rivalität verringern, indem sie vermeiden, ihre Kinder zu vergleichen, zu bevorzugen oder zu typisieren, und jedem Kind individuelle Aufmerksamkeit schenken. Keine leichte Aufgabe, besonders wenn ein Geschwisterkind mit einer Behinderung zur Welt kommt und dadurch mehr Aufmerksamkeit beansprucht. Aufgrund differenzieller Behandlung durch die Eltern können Kinder in derselben Familie sehr unterschiedliche Erfahrungen machen.
Zu beobachten ist, dass die Eifersucht zwischen Geschwistern oft umso stärker auftritt, je geringer der Altersunterschied ist. Auf meine nächstjüngere Schwester war ich offenbar so eifersüchtig, dass ich die Gitarre meiner Mutter mit einem Kuli zerkratzte und dies meiner Schwester in die Schuhe schob. Meine acht Jahre jüngere Schwester wurde von derartigen Aktionen verschont. Bei meinen Enkeltöchtern sehe ich, wie die Fünfjährige den neugeborenen Bruder liebevoll umsorgt, während die Liebkosungen der zweijährigen Schwester oft sehr heftig werden.
Welche Bedeutung hat die Geschwisterkonstellation?
Stimmen die Klischeevorstellungen von der verantwortungsvollen Ältesten, dem benachteiligten mittleren Sandwich-Kind und dem verwöhnten, rebellischen Nesthäkchen? Die Studienlage ist widersprüchlich. Die Psychologin Julia Rohrer hat an der Universität Leipzig Langzeitstudien ausgewertet und herausgefunden, dass diese Rollenzuschreibungen durchaus auftreten, sich jedoch auf lange Sicht ein Einfluss der Geschwisterreihenfolge auf die Persönlichkeitsentwicklung nicht belegen lässt. Ebenso wenig gibt es eindeutige Belege dafür, dass es Einzelkinder schwerer oder leichter im Leben haben als Menschen, die mit Geschwistern aufwuchsen. Das spätere Umfeld und familienunabhängige Einflussfaktoren scheinen in der Regel die in der Kindheit angelegten Strukturen zu modifizieren. Tritt dies nicht ein, können verfestigte Rollenfestlegungen aus der Kindheit im Erwachsenenalter zum Problem werden und sind immer häufiger Gegenstand der Aufarbeitung in der Psychotherapie.
Viele Geschwisterbeziehungen weisen einen typischen Verlauf auf: große Nähe in der Kindheit, Entfernung in der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter, Annäherung im Alter. Während wir in der Kindheit nicht gefragt werden, ob wir uns Geschwister wünschen, können wir uns als Erwachsene selbst fragen, ob wir die Beziehungen zu unseren Geschwistern aufrechterhalten oder abbrechen möchten. Wir können uns bewusst dafür entscheiden, wie wir sie gestalten wollen.
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