Blickpunkt: 60 Jahre TelefonSeelsorge
Sechzig Jahre Ausbildung in der TelefonSeelsorge
Von Sonja Müseler
In England hat mal jemand zu mir gesagt: „In Deutschland muss man hundert Prozent ausgebildet sein, bei uns nur fünfundzwanzig. Ihr Herz auf dem rechten Fleck müssen fünfundsiebzig Prozent haben. Die richtige Motivation muss jeder mitbringen.“
Das war auch 1956 so, als eine kleine Gruppe engagierter Christen in Berlin nach dem englischen Vorbild die TelefonSeelsorge gründeten. Den Impuls hatte die hohe Suizidrate in Berlin gegeben. Nun traf man sich jeden Samstag für dreieinhalb Stunden zur Fallbesprechung. Guido Gröger, Psychoanalytiker und Leiter des Zentralinstitutes Berlin, besprach
mit den Ehrenamtlichen die Fälle. Unterschiedliche Strategien wurden diskutiert. Die eigene Befindlichkeit war kein Thema. Die Veteranen erzählen von einer spirituellen, fast mystischen Atmosphäre beim Nachtdienst.
In der Studentenbewegung der sechziger Jahre ging es um die Errettung der Welt. Da blieben die seelischen Bedürfnisse und Anteile auf der Strecke. An der Uni durfte man nie zeigen, was einen emotional bewegt. Die TS wurde ein Aufnahmeort für alle, die niemanden hatten, dem sie sagen konnten, was sie beschäftigt.
Nein, ich finde, das Leben lohnt sich
Ab 1970 professionalisierte sich die Sozialarbeit. Einflüsse der Universitäten, besonders der drei Psychologischen Institute, kamen auch in der TS an. Es kam die Forderung nach mehr Zurüstung.
Papst Rogers tauchte auf: das nichtdirektive Gespräch. Die schon länger mitarbeiteten, konnten es von alleine oder hatten seit fünf Jahren alles falsch gemacht. Wer neu hinzukam, musste, sollte, durfte was lernen – Ausbildung machen. Es gab Rollenspiele, es hieß: Vermeide es, etwas zu sagen, was nach einem guten Rat aussehen könnte. Sage möglichst das noch mal, was der andere eben gesagt hat. Aber es gab auch andere Stimmen: Man kann doch nicht bei allen Anruferinnen und Anrufern spiegeln! Man muss doch auch sagen können: „Nein, ich finde, das Leben lohnt sich.“
Ich muss doch da selber vorkommen
In der Anfangszeit hatte man selbstbewusst gesagt: „Ich weiß, was gut für dich ist.“ Jetzt hieß es: Du musst dich distanzieren. Deine eigenen Anteile sind Störungen, Hindernisse. Du sollst dem anderen nur ermöglichen, das abzuladen, was er hat.
Ein Teil der Mitarbeiterschaft vertrat die nie ganz ausgerottete überzeugung: „Ich muss doch da selber vorkommen.“ Aber das traute sich bald keiner mehr zu sagen, weil gegen Rogers kein Kraut gewachsen war.
Es wurden weder Anonymität noch Distanz eingehalten. Anruferinnen und Anrufer wurden bestellt, man ging mit ihnen ins Café und redete dort. Pfarrer luden sie in die Gemeinde ein – dort wurden sie vereinnahmt, oftmals mehr, als sie verkraften konnten.
Es geht nicht um Themen, es geht um die Haltung
In den Siebzigern wurde die Gesprächsführung nach Rogers zum Ausbildungsbaustein. Auch die Betroffenheit der Seelsorgerin und des Seelsorgers schaute man sich nun an, rüstete. Es gab Workshops nach dem Lehrbuch „Das nichtdirektive Beratungsgespräch“. Man übte vor allem Grundelemente des Verstehens, des Fühlens, der Echtheit. Die Ausbildung dauerte jetzt Monate.
Mit einer neuen Ausbilderin aus der Verhaltenstherapie kamen neue Impulse. Sie erstellte eine Liste von Themen, mit denen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auseinandersetzen sollten: Beziehungen, Alkohol, Suizid und Sexualität. Sie erntete nicht nur Beifall. Die Fraktion „Es geht nicht um Themen, es geht um die Haltung.“ hielt stark dagegen. Aber um welche Haltung geht es denn nun? Die Suche ging weiter.
Neue Ausbilderinnen kamen und sorgten dafür, dass sich die Konzeption ihrer eigenen überzeugung anpasste. Plötzlich wurde die Gesprächstherapie als zu mechanistisch angesehen und die Ausbilderin brachte ihre Erfahrungen aus der Lehranalyse ein.
War die Selbsterfahrung zunächst unbedeutend, dann nebensächlich, wurde sie jetzt zur Hauptsache. Die Ausbildung war nun ähnlich wie eine Therapiegruppe strukturiert. Die Gruppe bot den Rahmen für eigene Reflexionen. Die eigene Motivation sollte bewusster, die eigenen Emotionen kennengelernt werden. Es ging um übertragung – Gegenübertragung – Widerstand. Die Gruppendynamik als Erkenntnisfeld war neu entdeckt. Die Gruppenleitung blieb abstinent und bot ein reiches Feld für Phantasien und übertragung.
Hinter dieser Veränderung steckte ein neues Menschenbild. Aus Sicht der Ausbilderin wurde die Anruferin oder der Anrufer in der Fallarbeit pathologisiert. Die neue Sicht war: Die Anruferin beziehungsweise der Anrufer ist ein Mensch, dessen innerer Dialog abgebrochen ist. Es gibt Situationen, da ist der Faden gerissen. Es ging nicht mehr um die methodisch richtige Gesprächsführung, es kam auf die Haltung an.
Man muss sich schützen können und distanzieren
Der Begriff des „Standhaltens“ wurde geprägt. Jetzt war man überzeugt: Es geht um die Haltung, um nichts anderes. Aber was macht die Haltung aus? Es zeigten sich unterschiedliche Hintergründe, in denen die Haltung wurzelte. Reicht das Vertrauen in Gott als Grundhaltung aus? Einem Teil der Ehrenamtlichen reichte das nicht, ihnen ging es um die analytische Grundhaltung. Kritische Stimmen sagten, diese Methode habe das Ziel, dass schließlich alle in Einzeltherapie gehen. Andere wiederum hatten ein humanistisches Menschenbild und fühlten sich in sozialer Verantwortung. Alles lief unter dem Motto: Findet selbst euren Weg, aber wehe, es ist der falsche! Suchte man methodenkompatible Ehrenamtliche, oder passte man die Methode den Ehrenamtlichen an?
Mitte der Neunziger kam Psychodrama mit in die Ausbildung. Damit verband sich die überzeugung, dass der Mensch sich über die Begegnung mit anderen, sozusagen im Widerhall, erlebt. Diese Ebene der Begegnung sollte stärker in den Fokus gerückt werden. Für die Leitung hieß das, nicht mehr nur Projektionsfläche zu sein.
Zunehmend sind Spuren jeder Methode in die Ausbildung integriert worden. Hinzu gekommen sind Themen wie Ressourcen, Suizid, Trauer, Sterben, psychische Erkrankungen und vieles mehr. Auch auf unterschiedliche Anruferstrukturen richtete sich die Ausbildung aus: Kinder und Jugendliche, Aggressive oder Telefonsüchtige wurden mit einbezogen.
Mir hat die These aus England gut gefallen: Ein Viertel Ausbildung, drei Viertel gutes Herz. Wofür dann Ausbildung? Dass das gute Herz, dass sich die Energiespeicher nicht so schnell verbrauchen, dafür hilft Ausbildung. Keiner hält Menschen immer und alle unbegrenzt aus. Man muss sich schützen können und distanzieren, auch dafür hilft Ausbildung.
Und trotzdem frage ich mich manchmal: Wäre nicht die eine oder der andere auch ohne Ausbildung genauso geeignet? Ein besonderes Potential muss schon da sein. Aber woher kommt das?
Pfarrerin Ella-Anita Cram, die bis zu ihrem 90. Geburtstag in der TelefonSeelsorge arbeitete, und Pfarrer Wolfgang Barthen, der in seiner Studienzeit am Telefon arbeitete, (beide waren bis 2015 Vorstandsvorsitzende) haben aus der Gründungszeit erzählt. Pfarrerin Ella Anita Cram ist am 6. November 2015 im Alter von 92 Jahren verstorben.
Sonja Müseler
war bis Ende 2015 Ausbildungsleiterin
der Telefonseelsorge Berlin e.V.
und Vorständin der
Stiftung Telefonseelsorge Berlin
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