Ausgabe 93 / Dezember 2016

Blickpunkt: Inszenierungen 2.0

Ich erzähle, also bin ich

Von Friedrich Dechant

Am Telefon und in der Seelsorge im Internet begegnen uns viele Geschichten.
Anrufende machen für sich und für uns ihr Leben lebendig.
In der Erzählung inszenieren sie ihr Leben.

Wir verfügen über unterschiedliche Möglichkeiten, einander nahe zu sein und mitzuteilen, wie es uns geht, was wir empfinden oder empfunden haben. Eine davon ist die Erzählung. Wer etwas erzählt, sei es eine eigene oder eine fremde Geschichte, will beim Hörer etwas bewirken. Um diese Wirkung zu erzielen, wird der Erzähler den Protagonisten der Erzählung und dessen Verhalten und Umwelt in einer zielgerichteten Art und Weise darstellen, inszenieren.

Eine Erzählung als Alltagskommunikation hat bestimmte Funktionen, die durch Art und Inhalt des Erzählten akzentuiert werden: Vergangenes Geschehen wird in die Gegenwart geholt; es wird auf charakteristische Weise aktualisiert.

In der Serie „How I met your mother“ erzählt ein Vater seinen Kindern, wie er ihre verstorbene Mutter kennengelernt hat. Er sagt aber nicht einfach: „Am Soundsovielten bin ich eurer Mutter begegnet, sie hat gerade dies und das gemacht“. Er erzählt viele Episoden aus seinem Leben und dem seiner Freunde, bis am Ende gerafft das Kennenlernen der Mutter erzählt wird. Die Kinder verstehen, dass die Erzählung (mehr als zweihundert Folgen) nicht einfach der Bericht des endlich erfolgten Kennenlernens ist, sondern die versteckte Bitte um ihr Einverständnis, dass der Vater eine neue Beziehung eingehen möchte.

Nähe zwischen Erzähler und Zuhörern wird hergestellt. Wer erzählt, passt Struktur, Inhalt und emotionale Färbung der Erzählung dem Publikum an und entscheidet in einer sozialen Leistung, was er wem, wann, wie, wozu erzählt.

Ein Student wird seinen Kommilitonen von einer mündlichen Prüfung anders erzählen als seiner Freundin. Sind für die Studienkollegen Prüfungsinhalt und -atmosphäre wichtig, wird für die Freundin wohl das eigene Können oder die Unfairness des Prüfers herausgestellt.

Am Telefon begegnen uns oft Anrufende, die diese Leistung nicht erbringen. Sie erzählen über lange Zeiträume Geschichten, die identisch klingen. Nuancierungen wirken zufällig, nicht absichtlich. Als Folge dieses Gesprächsverhaltens kommt kaum Empathie mit den Anrufenden auf, wohl aber mit den Mitmenschen, über die sie klagen.

Wer erzählt, will Kontrolle über ein Geschehen haben oder erlangen; Angst und andere unangenehme Gefühle können reduziert oder bewältigt werden. Deshalb muss eine Geschichte solange erzählt werden, bis wir uns beruhigt haben und die Zuhörerin adäquat auf unsere Emotionen reagiert hat. Es werden aber auch Wohlgefühle aktualisiert und intensiviert.

In Janoschs „Oh wie schön ist Panama“ wird eine alte Bananenkiste Anlass für Wohlbefinden. Der Bär erklärt dem kleinen Tiger, Panama sei das Land ihrer Träume, denn es dufte von oben bis unten nach Bananen. Diese Erzählung lässt die beiden Freunde auf die Suche gehen und andere mit der Idee anstecken.

Die Erzählung kann das Geschehene umarbeiten und eigenen Idealen nähern oder damit Zuhörerreaktionen verstärken.

In Nina Georges „Lavendelzimmer“ sucht Jean Perdu seine verlorene Liebe. Er fragt seit Jahren nach dem Boot, auf dem sie unterwegs gewesen ist. Allmählich kann er sich von dieser erzählten Suche verabschieden; er weiß längst, dass die Frau verheiratet ist. Das Ergebnis seines Geständnisses ist, dass ein Freund, der über die Jahre mit ihm gelitten hat, ihn aus dem Haus weist.

Erzählen macht Erleben unter der eigenen Regie möglich. Absicht ist, das Ereignis dramaturgisch so zu gestalten, dass bei den Hörenden eine bestimmte Wirkung erzielt wird. Sie sollen in die Geschichte körperlich und psychisch einsteigen. Wer erzählt, erwartet im Alltag vielleicht Lautmalereien, Kommentare und andere emphatische Äußerungen. Die seelsorglich- beraterische Distanz am Telefon macht den Unterschied zur Alltagskommunikation. Ziel der Telefonseelsorge ist nicht Empathie in den Erzählinhalt, sondern in den Anrufer. Begleitende nonverbale Äußerungen signalisieren interessierte Neutralität. An meinen Äußerungen kann ich prüfen, ob ich Telefonseelsorger oder Zuhörer eines „Hörspiels“ bin.

Erzähler und erzähltes Ich, Welt und erzählte Welt sind nicht identisch. Eine Erzählung ist kein Protokoll; Genauigkeit wird dem Effekt untergeordnet. Nicht Informationen über die Welt, sondern Verstrickungen des Erzählenden und sein Selbstkonzept sind Thema. Hilka Otte stellt zwischen Erzählen und Antonowskys Kohärenzgefühl einen Zusammenhang her. Erzählend werden die Verstehbarkeit der Welt, ihre Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit konstruiert und die Fähigkeit zur Selbstberuhigung genutzt.

Die Erwartung, dass sich der Erzähler an die „Wahrheit“ hält, gilt; außer es ist klar, dass eine fiktionale Geschichte erzählt wird. – Fiktionale Erzählungen werden im TS-Setting nicht erwartet. Sie stellen einen Rahmenbruch dar. Das ist anders, wenn ich im Fernsehen Raumschiff Voyager ansehe. Dann erwarte ich Wahrheit nicht als historische Faktizität, sondern als Logik in der fiktionalen Erzählung. Im Theater assoziieren wir mit Inszenierung „Skript, Akteure, Regie, Autor, Publikum, Kulisse“. Niemand wird bei einer Theateraufführung – und sei es ein Dokumentarstück – fragen: „Ist das genau so geschehen?“ Man wird fragen: „Was will das Stück sagen?“ Befragt wird die Wirksamkeit des Stücks, die sich hinter seiner Wirklichkeit zeigt. Watzlawick meint, wirklich sei, was wirke. Der Regisseur Ulrich Wünsch formt Watzlawicks berühmten Satz, man könne nicht nicht kommunizieren, um in „Man kann nicht nicht inszenieren.“

Carl Rogers’ Gesprächspsychotherapie baut auf der Erzählfähigkeit auf. Seine Idee, dass der Mensch umso kongruenter mit sich selbst würde, je mehr er über sich und seine Welt erzähle, je besser er mit therapeutischer Unterstützung die eigenen Gefühle und Motivationen verstehe, basiert auf der Annahme einer Selbstaktualisierungstendenz. Der Mensch wird im Erzählen seiner Geschichte und seiner Geschichten immer mehr er selbst, indem er die gewonnenen kognitiven, emotionalen und motivationalen Erkenntnisse nutzt.

In der Telefonseelsorge wird „Inszenierung“ oft auf den Spezialfall fiktionaler Erzählung eingeengt. Im Selbstverständnis scheint Fiktionalität keinen Platz zu haben und wird mit Lüge und Manipulation in Zusammenhang gebracht. Dem Inszenierungsbegriff wird seine kreative und produktive Kraft genommen. Ich denke, dass die Hörerin fiktionale Erzählungen durch die Erwartung der Anrufenden, emotional auf die Ereignisse der erzählten Welt zu reagieren, identifizieren kann.

Friedrich Dechant
Dr. Friedrich Dechant ist Mitglied der Redaktion von AUF DRAHT und Leiter der TS Nordoberpfalz

 

 

 

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