Ausgabe 10 / April 2020

Blickpunkt

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist

Ausgabe 10 – April | Mai | Juni

Die Bibel erzählt die Erschaffung der Welt und des Menschen zweimal. Während im ersten Schöpfungsbericht Gott feststellt, dass alles gut ist, was er gemacht hat, bemerkt er im zweiten, dass nicht alles gut ist. Der Mensch ist allein im Garten des Paradieses und das ist nicht gut für ihn. Er ist ohne Hilfe, ohne Ansprechpartner. Gott will dem Menschen ein Gegenüber geben, bei dem er Resonanz finden kann. Er erschafft die Tiere, aber auch wenn Adam ihnen Namen gibt, findet er keines, dem er sich wirklich verbunden fühlen würde. Seine Einsamkeit bleibt. Da schafft Gott aus Adams eigener Daseinsweise, die Bibel sagt aus seiner Rippe, ihm eine Partnerin, eine Hilfe. Die Frau ist nicht die Gehilfin des Mannes bei irgendwelchen Tätigkeiten, sondern sie ist ihm als Partnerin die Hilfe, dass sein Leben gelingen kann ( Gen 2, 1-24).

Der biblische Mythos drückt eine Grunderfahrung aus: Der Mensch ist nicht für die Einsamkeit gemacht. Immer wieder muss er sie erleben, ertragen und gestalten, aber er ist ein soziales und kommunikatives Wesen. Wie andere Primaten lebten schon die frühen Menschen in Horden. Die Gruppe bot Schutz gegen Feinde, ermöglichte gemeinsame Jagd, das Sammeln von pflanzlicher Nahrung, die Aufzucht der Nachkommen und Krankheitsfürsorge. Es ist nötig, dass Menschen an sich selbst denken. Aber sie müssen auch sozial handeln, wenn sie nicht ihr eigenes Wesen verraten wollen. Dauerhaftes, unfreiwilliges Alleinsein wird als Einsamkeit erlebt und verursacht Stress. Freilich kann auch das Gegenteil Stress verursachen: Gruppenzwang, verweigerte Solidarität und übersteigerte Erwartungen an die Anderen können ebenfalls zu sozialer Isolation führen. Vermutlich fühlten sich Adam und Eva ziemlich vereinsamt und isoliert voneinander, als Adam nach dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis Gott antwortet: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben.“ (Gen 3, 12) Adam übernimmt nicht Verantwortung für sein Handeln, er schiebt die Schuld von sich auf Eva und auf Gott und entfremdet sich damit; dem gemeinsamen Glück folgt das schmerzhafte Gefühl des Getrenntseins zu zweit.

Siebzehn Prozent der Deutschen sind häufig oder ständig einsam (1). Am Krisentelefon ist Einsamkeit oft Thema. Dass sich jemand einsam fühlt, kann an äußeren Umständen wie Arbeitssituation, Umzug, Erkrankung, Trennung und Alter liegen, aber auch in der eigenen Person. Wer offener auf die Welt und Andere zugehen kann, ist weniger einsamkeitsgefährdet als jemand, der insgesamt der Welt skeptischer und ängstlicher gegenüber steht (2). Eine Anruferin erzählt, dass sie sich mit ihren drei Söhnen zerstritten hat, weil keiner von ihnen eine Partnerin gewählt hat, die ihren Vorstellungen entsprochen hat. Nun ist sie alt und einsam. Auf Nachfrage nach anderen sozialen Kontakten erzählt sie, sie wolle diese nicht, sie habe sich in ihrer Welt eingesponnen.

Einsamkeit ist als Alarmsignal an unser Bedürfnis nach Bindung gekoppelt. Es will uns helfen, wieder stärker in Kontakt mit Anderen zu kommen. Wenn es nicht gelingt, Bindung herzustellen, dann schützt unser Körper uns vor dem Trennungsschmerz und der Angst vor dem Alleinsein, der Einsamkeit, indem er unser Streben, soziale Kontakte zu knüpfen, herunterfährt (3). Die entstehende Depression hilft, den Schmerz über Trennung und Verlust zu vermeiden. Damit ist Depression wie ein körpereigenes Medikament gegen Gram über verlorene Bindungen. Aber als Dauermedikation schadet auch die Depression. Es ist wichtig, wieder Anschluss an die Welt und an Andere zu finden.

Jeder Mensch fühlt sich irgendwann in seinem Leben einsam. Das ist keine Katastrophe, sondern notwendig, um Beziehungen genießen und gestalten zu können. Wer niemals einsam ist, ist wohl kaum bei sich. Zum Entwicklungsprozess gehört, dass sich das Individuum ablöst, das kleine Kind eigene Schritte geht und die Welt erforscht, Jugendliche sich aus dem Familienverband lösen, Partner nicht in der symbiotischen Verschmelzung der Verliebtheit verharren. Wer sich in einer sicheren Bindung zu geliebten Menschen weiß, kann sich in die Welt wagen, auch wenn er dort die zeitweise Erfahrung von Alleinsein, Unverstandenwerden und Einsamkeit machen muss. Das Vertrauen auf eine sichere Bindung ermöglicht neue Erfahrungen. Der Mensch wird am Du zum Ich, sagt Martin Buber (4). Er meint damit, was auch der Schöpfungstext der Bibel zum Ausdruck bringen will. Auf sich allein gestellt, kann der Mensch nicht seine Möglichkeiten entdecken und ausschöpfen. Er kann das Leben nicht genießen. Er braucht den Anderen, um im Dialog sich mit all dem, was ihn als Individuum ausmacht, zu finden. Erst wenn er sich auf eine anderen Person einlässt, kann es ihm gelingen, seine Einsamkeit zur Zweisamkeit zu verwandeln. Insofern kann man den berühmten Satz Descartes‘ „ich denke, also bin ich“ umdeuten in „ich liebe / werde geliebt, also bin ich.“ Für viele ist dieses geliebte Gegenüber anders als im biblischen Text ein (Haus-)Tier. Es wird als Gegenüber, als Freund und Gesprächspartner verstanden. Ärzte verordnen älteren Alleinstehenden einen Hund nicht nur, damit sich die Betroffenen mehr bewegen, sondern auch, damit sie auf der Straße soziale Kontakte pflegen und mit dem Tier einen liebevollen und fürsorglichen Kontakt aufbauen, der der Einsamkeit entgegenwirkt. Menschen, die lieben, sind vielleicht allein, aber nicht einsam. Medien können dabei helfen, Entfernungen zu überbrücken, ob das nun Briefe, Telefonate, Mails oder andere digitale Nachrichten sind. Medien können zu Mittlern der Liebe, der Sympathie, der Beziehung werden. Einsamkeit in der digitalen Welt entsteht, wenn virtuelle Kontakte nicht real, nicht persönlich sind. Das Medium entscheidet nicht über die Wirklichkeit in Sinne der Wirksamkeit und der Wahrheit. Es scheint so, als ob durch mediale Vermittlung die Wirklichkeit wirklicher, wirkungsvoller, manchmal sogar unmittelbarer werden kann. Aus dieser Erfahrung lebt die TelefonSeelsorge. Durch ihr Gesprächsangebot bietet sie Beziehung an.Wer am Telefon achtsam und wertschätzend zuhört, geht in Kontakt und stellt sich den Anrufenden als Person zur Verfügung. Gemeinsam lässt sich deren Einsamkeit punktuell durchbrechen. Dass Begegnung gelingt und nicht ihr Gegenteil, „Vergegnung“, entsteht, kann niemand garantieren. Es ist eine Chance, dass nach dem Telefonat, nach Mail- oder Chatkontakt aus Einsamkeit Alleinsein werden kann oder dass Ratsuchende den ersten Schritt zu neuer Gemeinsamkeit gehen. Wenn sie für sich Sinn und Hoffnung finden, wandelt sich ihr emotionales Erleben. Eine Anruferin, die am Anfang unseres Gespräch einsam war, hat mir zum Abschluss des Telefonats gesagt: „Wenn man mit jemandem reden kann, kommen in den Kopf andere Gedanken.“

(1)  https://www.splendid-research.com/de/studie-einsamkeit.html
(2) Buecker, S. et al.: Loneliness and the Big Five Personality Traits: A Meta-
Analysis. (https://www.researchgate.net/publication/332351155_Loneliness_and_the_Big_Five_Personality_Traits_A_Meta-
Analysis_Preprint)
(3) Panksepp, J. / Watt, D.: Why Does Depression Hurt? Ancestral Primary-
Process Separation-Distress (PANIC/GRIEF) an Diminished Brain Reward (SEEKING) Processes in den Genesis of Depressive Affect: Psychiatry 74 (1),
2011, 5-13
(4) Buber, M.: Ich und Du (1923;1995)

 

Friedrich Dechant
Leitung TelefonSeelsorge Nordoberpfalz,
Mitglied der 24/7-Redaktion

 

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