Blickpunkt
VON DER SEELE SCHREIBEN
Wenn ich schreibe ordne ich die Gedankenflut in meinem Kopf
Ausgabe 11 – August | September | Oktober | November 2020
Neulich fand ich beim Aufräumen ein Papier wieder auf dem ich im Alter von Fünfzehn meine Sorgen niedergeschrieben hatte. Meine abschließenden Sätze damals, im Dezember 1971: „Vielleicht ist das Aufschreiben schon ein Schritt zum größeren Selbstbewusstsein. Ich hoffe es.“ Lesend kann ich mir heute meine Gefühle vergegenwärtigen und meine Entwicklung nachvollziehen. Ohne das Medium Schreiben wäre die Erinnerung heute nicht präsent.
Ich betrachte meine damalige Handschrift. Sie ist Ausdruck meiner Persönlichkeit; mein Schriftbild ist ein Bild meiner selbst. Wann immer es möglich ist, schreibe ich von Hand. Mein Schriftbild ändert sich je nach Situation und Stimmung, gleichzeitig ist es unverwechselbar. Wenn ich schreibe, ordne ich die Gedankenflut in meinem Kopf. Ich kann mir etwas von der Seele schreiben.
Welche Bedeutung hat das Schreiben für die Arbeit bei der TelefonSeelsorge? Wenn beim Telefonieren die Stimme wichtig ist um in Resonanz zu den Ratsuchenden zu gehen, was heißt dann das geschriebene Wort für Mailen und Chatten?
Während am Telefon das Gesagte spontan ist und schon nach kurzer Zeit nicht mehr genau erinnert wird ist das Geschriebene in der Mail überlegter und weniger flüchtig. Ratsuchende, die oft vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen und keinen klaren Gedanken fassen können, haben durch das Aufschreiben einen ersten Schritt getan um sich zu sortieren.
Nun kann ich als TelefonSeelsorgerin korrespondieren – im doppelten Sinn des Wortes. Ich versuche der Mail zu entnehmen, ob jemand sich ohne Punkt und Komma etwas von der Seele schreiben möchte, ob er selbst eine Struktur vorgibt, sehe wo die Prioritäten liegen. Beim Lesen kann ich die Worte in mich einsacken und wirken lassen. Ich kann eine Nacht darüber schlafen, ich kann mir Zeit lassen mit meiner Antwort und überlegen, auf was ich eingehen möchte, in welche Richtung mein Schreiben weisen könnte. Durch Anrede und Abschiedsgruß, Entscheidung über Länge und Kürze der Mail, Absätze, Wahl der Sprachebene und der Inhalte versuche ich mich auf die Ratsuchenden einzustellen und bin gespannt auf die Reaktion.
Ich versuche zwischen den Zeilen zu lesen um Emotionen auf die Spur zu kommen. Meine Wahrnehmung teile ich mit und erfrage, ob ich damit richtig liege. So kann der Austausch in die Tiefe gehen, und im Verlauf des Mailkontaktes kann ich prozesshaft immer wieder nachjustieren werden.
So viel Zeit zum Überlegen habe ich beim Chatten nicht. Der Chat ist für mich ein Zwischending. Er bietet die Spontaneität der mündlichen Kommunikation und hält gleichzeitig die Gedanken schriftlich fest. Anders als bei der Mail ist der Austausch dialogisch aufgebaut. Das Chat-Gespräch ähnelt vom zeitlichen Aspekt her dem Telefonat. Es ist Kommunikation in Echtzeit, mit geringer Verzögerung. Die Resonanz der Stimme fehlt, doch es gibt Frage- und Ausrufezeichen, Pünktchen…, chatübliche Abkürzungen und Emoticons um Stimmungen deutlich werden zu lassen. Diese Hilfsmittel werden öfter als beim Mailen benutzt.
Doch ich sehe auch Schwierigkeiten beim Chatten. Manchmal sind Sätze so bruchstückhaft, dass es zu Missverständnissen kommt. Auch das Tempo des Schreibens kann Probleme machen. Als Chatterin muss ich meine Worte prompt finden, und was ich einmal abgeschickt habe, ist unwiderruflich angekommen. Meistens lassen sich durch Nachfragen Ungereimtheiten aufklären. Eine andere Herausforderung entsteht, wenn Ratsuchende eine ganze Passage mit der Beschreibung ihrer Probleme in den Chat kopieren. Ich begegne dem Ungleichgewicht in der Kommunikation, indem ich mir Zeit zum Lesen und Verstehen erbitte und anschließend versuche ins eigentliche Gespräch zu kommen.
Insgesamt beobachte ich, dass besonders junge Leute sich im Medium Chat zu Hause fühlen. Der Austausch ist kreativ; es gibt viele Nachfragen von beiden Seiten, Probleme werden eingegrenzt, Emotionen benannt. Der Zwang zum Schreiben macht es einfacher Dinge auf den Punkt zu bringen.
Sowohl für mich als auch für die das Chatten und Mailen stelle ich fest: Schreiben entlastet und bereichert.
Anne Michel-Pill
Ehrenamtliche der TelefonSeelsorge Hagen-Mark
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