Ausgabe 12 / Dezember 2020

Blickpunkt

Ehrenamt und Freiwilligentätigkeit in der Arbeitsgesellschaft

Beruf und Ehrenamt in der gesellschaftlichen Entwicklung

Ausgabe 12 – Dezember 2020 | Januar | Februar | März 2021

„Ich wollte auf zwei Beinen im Leben stehen!“, sagte Karina, als sie drei Jahre nach ihrer Ausbildung und anschließenden ehrenamtlichen Tätigkeit in der TelefonSeelsorge zu ihrer persönlichen Motivation für das Ehrenamt befragt wurde. Bei einer anspruchsvollen Tätigkeit in einer internationalen Bank kann sie nicht über Langeweile klagen und hat mit den notwendigen Pendelzeiten zur Arbeit keine Zeit totzuschlagen. Und trotzdem bringt sie rund 20 Stunden im Monat ehrenamtliches Engagement ein für Telefondienste, Supervision und Fortbildung. Ihr Motiv: nicht nur für die Vermögensmehrung derer zu arbeiten, die sich fast alles leisten können, sondern auch denen, die unter Belastungen leiden, nützlich zu sein.

In unserer flexiblen Arbeitsgesellschaft bieten sich vielfältige Konstellationen mehr oder weniger sinnstiftender Tätigkeitsformen für ein gelingendes Leben heraus. Der Blick auf einige Meilensteine in der gesellschaftlichen Entwicklung kann uns im Gewusel unserer alltäglichen Tätigkeiten, das immer wieder unsere Entscheidung verlangt, Orientierung bieten.

Meilensteine der gesellschaftlichen Entwicklung im Arbeitsleben sind:

  • Die Industrialisierung führte zu einer Trennung von Arbeiten der Reproduktion (Nahrung, Kleidung, Wohnen …) und solchen der Produktion. Technisch und wirtschaftlich bietet diese Arbeitsteilung mehr Effizienz, teilte jedoch das Leben in unterschiedliche Welten auf.
  • Mit den Entwicklungen in Philosophie, Religion und Kunst in Bezug auf Emanzipation, Gerechtigkeit und Machtregulierung entstehen neue Autonomiespielräume für die Menschen.
  • Durch die Globalisierung, die technische Entwicklung und das neoliberale Wirtschaften werden die Arbeitsverhältnisse immer unterschiedlicher. Es entwickeln sich auch Arbeitsverhältnisse, die krisenhaft erlebt werden: nicht existenzsichernde Arbeitsverhältnisse, in denen sich Menschen mit Mindestlohn und mit 400 €-Jobs ergänzt mit Subsistenzleistungen über Wasser halten, und auf der anderen Seite Arbeitsverhältnisse in der Gefahrenzone von Burnout und Sinnkrise.

Der Soziologie Richard Sennett hat den Begriff des „flexiblen Menschen“ im Blick auf die Auswirkungen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Organisation unseres Arbeitens und unseres Tätigseins geprägt. Wo früher die traditionelle Familie langfristig mit einem Arbeitgeber an einem Standort verbunden war, führt heute „ein leichtes Husten“ im wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens zum Umsiedeln oder zum Pendeln ganzer Familien. Langfristige Verbindlichkeiten und Loyalitäten spielen im Arbeitsleben eine immer geringere Rolle. Diese Entwicklungen in der Arbeitswelt überfordern gleichzeitig die langfristigen Verbindlichkeiten und Loyalitäten, die für unsere sozialen Beziehungen wie Freundschaften, Paarbeziehungen, Familien existentiell sind. Bei dem zu bewältigenden Störungspotential durch neue Herausforderungen und teilweise sich widersprechende Forderungen ist unser persönliches Planungsbüro ganz schön gefordert. Das gelingende Leben ist zur Managementaufgabe geworden. Bei einer Fülle von Optionen müssen wir – scheinbar – nur im richtigen Moment und an der richtigen Stelle zugreifen, um wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ein gutes Leben führen zu können. Und umgekehrt: Wenn es denn mal nicht gelingt, hat wohl unser individuelles Planungsmanagement versagt oder wir waren schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort.

Hinzu kommt, dass unser neoliberales Wirtschaftssystem nicht die existentiellen und existenzerweiternden Bedürfnisse aller Menschen erfüllen kann. Es braucht das soziale Kapital der Gesellschaft – eine tragfähige Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft und die soziale Integration der Gesellschaft über soziales Kapital. Soziales Kapital wird in unserer wirtschaftlichen Entwicklung immer bedeutsamer, da der Markt als zentrales wirtschaftliches Steuerungsinstrument nicht sicherstellen kann, dass die Menschen und die Bereiche überleben können, mit denen sich kein Geld verdienen lässt. Dementsprechend wurden für diese Formen sozialen Kapitals von den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts an viele Begriffe geprägt: Bürgerschaftliches Engagement, Zivilgesellschaft, Altes und Neues Ehrenamt und schließlich freiwilliges Engagement.

Auch die individuelle Lebensgestaltung ändert sich. Für viele Menschen wird es immer schwieriger, ihr Leben in einer zusammenhängenden Geschichte zusammenzufassen – eine Geschichte, in der Mühen und Plagen des Alltags ebenso einen nachvollziehbaren Sinn ergeben wie die Erfolge ihres Lebens.

In einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Erwerbsbeteiligung und Erwerbsarbeitsplätzen und bei einer ausreichenden materiellen  Absicherung erhält das Individuum die Chance zum souveränen Arbeitsgestalter in der zivilen Arbeitsgesellschaft, wie es Gerd Mutz ausdrückt: „Ich setze mir mein Arbeitsleben oder mein Tätigkeitsportfolio aus existenzsichernden und sinnstiftenden Tätigkeiten zusammen. Dabei achte ich auf einen ausreichenden Autonomiespielraum.“

Zum Verhältnis von Ehrenamt und Erwerbsarbeit

Das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Ehrenamt ist auf gesellschaftlicher Ebene trotz des Modells der souveränen Arbeitsgestaltung spannungsreich. Einerseits wird die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch ehrenamtliches Engagement kritisiert. Andererseits wird ein Sterben des Ehrenamtes prognostiziert, weil sich Beruf, Familie und Ehrenamt immer schlechter vereinbaren lassen. Auch kommt es zu Konflikten und Rivalitäten zwischen Professionellen und Laien, was die Kooperation erschwert.

Das Ehrenamt und freiwillige / unbezahlte Arbeit wird immer weniger aus religiösen oder sozialen Werten und Traditionen gewählt. Persönliche Entscheidungen aus ganz unterschiedlichen biografischen Situationen stehen weitgehend im Vordergrund. In der Auswahl der Tätigkeitsfelder spielt der Bedarf eine geringere Rolle als das Bedürfnis der Freiwilligen (Welcher Aufgabe will ich mich stellen?) und der Anregungs- und Sinngehalt eines Engagements. Freiwillige wählen Dienste sehr stark nach ihren vermuteten und sonst weniger berücksichtigten Kompetenzen und den Möglichkeiten zum Kompetenzerwerb bzw. zur Kompetenzerweiterung in den Diensten aus. Beteiligung in Form von Mitsprache und Mitberatungsmöglichkeiten fördern ebenfalls die Motivation ehrenamtlicher Mitarbeit.

Bei den Freiwilligendiensten und ehrenamtlichen Engagement zeigt vor allem die TelefonSeelsorge eine lange Erfahrung im Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichen. Trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten ist im Arbeitsfeld der TelefonSeelsorge die ehrenamtliche Arbeit seit mehr als sechs Jahrzehnten von großer Kontinuität geprägt. Selbstverständlich gibt es auch hier Jahre, in denen Angebot und Nachfrage an Mitarbeitenden nicht deckungsgleich sind. Auch hier bedarf es der Personalentwicklung. Trotzdem stellt sich der Dienst als verlässlich und konjunkturstabil dar. Offensichtlich hat diese Form der ehrenamtlichen Arbeit eine besondere Attraktivität, die immer wieder zu Bewerbungen Ehrenamtlicher führt.

Die TelefonSeelsorge als Beratungsdienst genießt hohe Anerkennung. Menschen in meist schwierigen, auf den ersten Blick ausweglosen Lebenssituationen ein Ohr zu schenken und so mögliche Lösungen und Unterstützungsangebote zu entwickeln, wird hoch gewertet. Die Möglichkeit Gesellschaft mitzugestalten ist ebenfalls ein hoher Motivationsfaktor. Ein weiterer Anreiz kann sein, dass die Tätigkeit der eigenen beruflichen Weiterentwicklung dient oder dass das soziale Umfeld als interessant angesehen wird: Wo finde ich Menschen, die sich für mehr als Konsum und Genuss interessieren?

Theologisch bewegt sich das Selbstverständnis Freiwilliger weg vom barmherzigen Samariter zum Verständnis und zum Einsatz der Talente, also von der Barmherzigkeit zur Emanzipation, zu menschlichem Wachstum und Gestaltungsfreude. Die unbezahlte ehrenamtliche Arbeit kann bei entsprechenden Kompetenzen und passender Gestaltung und Organisation Anerkennung und Sinnstiftung gewährleisten und konjunkturunabhängig ein stabiles Angebot ehrenamtlichen Engagements sicherstellen.

 

Bernd Steinmetz
Leiter der Telefonseelsorge Trier

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