Ausgabe 15 / Dezember 2021

Blickpunkt

Scheitern

Versagen, Fehler, Niederlage

Ausgabe 15 – Dezember 2021 | Januar | Februar | März 2022

Ich gebe es zu – ich habe ein Problem mit dem Wort „Scheitern“. Es ist mir in vielen Fällen zu groß und wird zu inflationär benutzt, ähnlich wie das Wort „Tragödie“.

Wenn die Fußballmannschaft eine Niederlage einsteckt und gesagt wird, sie sei am Gegner „gescheitert“, denke ich: sie haben verloren, weil entweder Kondition, Können oder Glück gefehlt haben, die Taktik nicht passte.

Wenn jemand an der Führerscheinprüfung „scheitert“, denke ich: da gab es in der Prüfungssituation einen Fahrfehler, eine gezeigte Unsicherheit, die dazu geführt haben, dass der Prüfer die Fahrerlaubnis nicht erteilt hat.

Versagen, Fehler, Niederlage, Misslingen – sie gehören zum menschlichen Leben. Sie sind das Risiko, das wir eingehen, wenn wir etwas tun. Manchmal triff die Ideal- und Wunschwelt eben auf die harte Faktenwelt, manchmal müssen wir uns eingestehen, dass wir nicht so geplant, gedacht, gehandelt haben, wie die Situation das erfordert hätte. Natürlich spielen Bewertungen eine große Rolle: die Bewertung durch die Betroffenen selbst und die Bewertung durch die Außenwelt.

Bei all meiner abgeklärten Darstellung möchte ich nicht missverstanden werden: die Betroffenen reagieren zu Recht mit Enttäuschung, Trauer und Scham und, wenn es mehrmals geschieht, womöglich auch mit Verzweiflung. Sie verdienen unsere Empathie und unseren Trost.

Scheitern in meinem Verständnis ist viel existentieller – da zerbricht etwas komplett. Laut Wikipedia ist eine der Bedeutungskomponenten des Begriffes „Scheitern“ der Schiffsunfall, bei dem das Schiff so zerstört wird, dass viele Scheite entstehen. Da ist von dem Schiff dann nur noch wenig zu retten.

Auf das menschliche Leben und/ oder Beziehungen bezogen würde man das vielleicht Havarie in der Biografie nennen können, ein Scheitern an der Welt sozusagen.Das z.B. erlebt eine Person durch von außen kommende Schicksalsschläge: wenn der Arbeitsplatz ins Ausland verlagert wird, wenn der Betrieb infolge von Corona-Maßnahmen Insolvenz anmelden muss, wenn eine Person trotz guter Ausbildung, Eignung, Begabung, Weitsicht, die Möglichkeit verliert, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre beruflichen Träume und Ziele zu verwirklichen.

Das erleben Menschen, die selbst oder ihre Lebenspartner, Kinder, verunfallen, erkranken oder aus dem Leben gerissen werden. Das erleben Menschen, deren Partnerinnen oder Partner sich aus der Beziehung einseitig lösen. Da wird der Boden unter den Füßen weggezogen, werden alle Gewissheiten zerbrochen, gehen alle Sicherheit und Geborgenheit verloren… Das ist für mich Scheitern.

Wann erlebt sich jemand als gescheitert?

Hängt das nicht von der Persönlichkeit genauso wie von der Situation ab? Spielt da nicht die Beurteilung, die eigene wie die des sozialen Umfelds eine entscheidende Rolle?

Die geschiedene Ehefrau, die es nach langen Jahren des Leidens geschafft hat, sich aus der Beziehung zu ihrem alkoholkranken und gewalttätigen Mann zu lösen – die meisten von uns würden das vermutlich als Erfolg ansehen, aber sie selbst mag ihr Leben dennoch als gescheitert bewerten.

Der Läufer, der als letzter das Ziel erreicht – ist er gescheitert? Oder ist es eine große Leistung, dass er das Ziel unter Aufbietung aller seiner Kräfte und in fast übermenschlicher Anstrengung überhaupt erreicht hat?

Der Erfinder der Post-it-Haftnotizzettel war gescheitert mit dem Auftrag, einen Kleber herzustellen, aber die alternative Nutzung als fixierbares und spurenlos ablösbares Lesezeichen erwies sich später als erfolgreich.

Es gibt aber auch Fälle, die tiefer gehen,

wo Außenstehende wahrnehmen, dass da jemand an sich selbst scheitert, durch Selbstüberschätzung, mangelhafte Planung, zu langes Festhalten an einem einmal eingeschlagenen Weg, zu illusorischen Zielen, dass der Entwurf der Sache und/ oder der eigenen Person nicht der Situation angemessen ist, nicht zur Faktenwelt passt. Wenn dann die Niederlage bewusst wird und es gar nicht mehr weitergeht, sich die/ der Scheiternde das eigene Scheitern eingestehen muss, sind Angst vor den Konsequenzen, Verzweiflung, Resignation und Hoffnungslosigkeit, Scham und die Identitätsfrage die Folge. An dieser Stelle können die Betroffenen nicht „erfolgreich scheitern“, können das Scheitern zunächst gar nicht als Chance ansehen.

 

Astrid Brenner
TelefonSeelsorge Essen

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