Blickpunkt
Heilig
Was ist uns in der TelefonSeelsorge heilig?
Ausgabe 4 August | September | Oktober | November
Ein Wort vorweg:
Michael Hillenkamp (M.H.): Mit „heilig“ ist eine Kategorie angesprochen, die ich als geradezu intim empfinde. Auf die TelefonSeelsorge bezogen verstehe ich darunter das, was unterhalb aller Regelungen unsere Aufgabe in der Welt ist, was unserer Arbeit Sinn gibt und was unverzichtbar ist.
Ruth Betzner (R.B.): Mir fällt zu „heilig“ eher Ehrfurcht als Intimität ein – da ist auch das Spannungsreiche drin, das ich damit verbinde. An Heiligem darf man nicht rühren, sonst bringt man ein Gefüge in Gefahr. Da fällt mir wenig ein in der TelefonSeelsorge, dem ich eine solche Heiligkeit zugestehen würde. Aber es gibt durchaus Heiliges, da stimme ich dir zu, Michael.
WAS BEDEUTET HEILIG FÜR EUCH?
M.H. Für mich liegt unsere Mission in der Bereitschaft, mit anderen in Kontakt zu kommen, eine Begegnung zu ermöglichen, sich von ihrem Leben und dem damit oft verbundenen Leiden ansprechen zu lassen und bereit zu sein, ein kurzes Stück des Weges mit zu gehen.
R.B. Diesen Gedanken teile ich. Ich weiß allerdings nicht, ob ich von „heilig“ reden würde. Das klingt mir zu groß, zu absolut.
M.H. „Heilig“ ist mir auch die Haltung, mit der die TelefonSeelsorge über alle Jahrzehnte ihrer Aufgabe nachgegangen ist. Offen zu sein für alle Anliegen und ohne Ansehen der Person; egal ob reich oder arm, Frau oder Mann, gesund oder krank ….
R.B. … das entspricht am ehesten meiner Vorstellung von „Heilig“: nicht primär auf das konkrete Tun, sondern auf die Haltung zu schauen. Und die ist für mich nicht verhandel- und nicht relativierbar. Sie definiert sich durch den Respekt vor der Würde und Integrität eines jeden, mit dem wir hier in Kontakt kommen. Wir begegnen Gottes Ebenbildern. Und gerade weil wir es so oft mit dem Scheitern, den Ängsten, der Verzweiflung, aber auch mit Grenzüberschreitung, Aggression und Abwertung zu tun haben, ist es etwas ganz Besonderes, Heiliges, diese Gottesebenbildlichkeit zu sehen und in den Kontakt mit hineinzunehmen.
M.H. Grundlegend sind für mich immer die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ Das ist eine großartige Aussage, so etwas wie die Tiefenmelodie unserer Arbeit. Es ist unser Auftrag, Begegnung für Menschen in den Medien unserer Zeit zu ermöglichen.
R.B. Für mich besteht der Wert dieser Begegnung darin, dass Menschen hier einen Raum haben, in dem sie sich achtsam wahrgenommen und nicht nur in ihren Fähigkeiten, sondern auch in ihrer Verletzlichkeit geschätzt und geschützt erleben. So sollte der Raum auch für die Mitarbeitenden sein.
WAS GEHÖRT FÜR EUCH NOCH DAZU?
M.H. Ein großer Schatz ist unsere Freiheit. Anders als die meisten Hilfeeinrichtungen sind wir nicht eingebunden in ein Kranken- oder Gesundheitssystem oder in die Logik eines Wirtschaftsbetriebs. Diese Freiheit macht es möglich, Unaussprechliches zu benennen und bisher noch nicht Gedachtes zu äußern.
R.B. Dass wir außerhalb des staatlichen Gesundheits- und Fürsorgesystems Seelsorge anbieten, gibt uns inhaltlich Freiheit − und den Seelsorge-Suchenden einen geschützten Raum. Und wir können ein wertvolles Gut, Zeit und Aufmerksamkeit anbieten, ohne dass es „sich rechnen“ muss. Das muss uns wirklich heilig sein.
M.H. Ein weiteres „Heiligtum“ ist mir die ökumenische Gestalt der TelefonSeelsorge. In allen Jahren war dies nie ein praktisches Agreement, sondern immer ein bewusstes Zeichen für die Aufgabe der Kirchen in der heutigen Zeit: Da zu sein für die Menschen.
Auch die Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen gehört für mich in diesen heiligen Reigen. Unsere Ehrenamtlichen zeugen für die Bereitschaft, sich Zeit zu nehmen und da zu sein. Hiermit machen wir die Welt mit unseren bescheidenen Möglichkeiten zu einem „better place to be.“ Und das ist großartig.
R.B. Ökumene und das Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen finde ich auch großartig. Letztlich ist dabei die Haltung das Entscheidende, die konkrete Ausgestaltung finde ich immer verhandelbar, und insofern sind das keine „heiligen Kühe.“
M.H. Die Frage nach unseren Heiligtümern bringt ganz schnell auch der Frage nach unseren heiligen Kühen mit sich. Und auch hier möchte ich nicht kneifen.
ANONYMITÄT. Die Anrufenden müssen sich darauf verlassen können, dass wir ihre Gedanken nicht in die Öffentlichkeit bringen. In den letzten Jahren merken wir jedoch, dass Datenschutz- und Rechtsfragen rund um die technische Sicherung der Anonymität die Arbeit schwieriger machen. Ohne das Thema hier eingehend vertiefen zu können, halte ich den Begriff der Verschwiegenheit für eine gute Orientierung, die uns helfen kann, sich nicht nur auf die Einhaltung aller technischen Anonymitätserfordernisse zu fokussieren.
RUND UM DIE UHR. So zentral dieses Merkmal unserer Arbeit auch ist, institutionsintern führt es immer wieder zu einer Bewertung von guten und irgendwie doch schlechteren Stellen. Hier wünsche ich mir eine deutliche Verbesserung unserer Kultur der Gemeinsamkeit. Nur wenn wir unser Netzwerk wirklich ausschöpfen, werden wir in Zukunft unserem eigenen Anspruch gerecht bleiben können.
UNSERE LEISTUNGSFÄHIGKEIT: Wir wissen, dass uns nicht jeder und jede erreicht (ob Telefon, Mail, Chat oder face to face) und wir haben auch „nur“ das Gespräch. Das ist oftmals wenig, aber es kann der Faden sein, den jemand braucht, um sich in der Dunkelheit voranzutasten, auf dem Weg zu bleiben oder einen neuen Weg zu suchen. Unsere Möglichkeiten und unsere Ausstattung sind begrenzt. Eine neue Bescheidenheit den eigenen Grenzen gegenüber stände uns gut an und würde uns mehr Atemfreiheit und Selbstbewusstsein geben.
R.B. Bescheidenheit finde ich ein wichtiges Stichwort. Es kommt noch eine Dimension hinzu. Wir haben es nicht in der Hand, was Menschen aus dem Gespräch mit uns mitnehmen und was sie daraus machen. Wenn sich für jemanden etwas zum Besseren wendet – vielleicht nur für den Moment − dann haben wir das nicht „gemacht“, es ist für beide ein Geschenk und heilig.
Ruth Belzner
Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge
Michael Hillenkamp
Sprecher der Katholischen Kommission
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