Ausgabe 83 / August 2013

Blickpunkt: Die Nacht

83_DieNachtVerletzlich ist die Nacht

„Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung“, meinte einst der Dichter Heinrich Heine. So zitiert es der Kalender auf Erikas Nachtkästchen. Ihr schwant, dass ihr heute unruhiger Schlaf bevorsteht. Ungestörte Schlaf- Idylle ist den anderen vorbehalten. Viele Menschen legen sich auf den Rücken und das dunkle Firmament breitet den Mantel der Ruhe über sie. Erfrischt wachen sie auf und werden vom gestisch pastellenen Farbauftrag des Morgens einladend begrüßt.

Heute legt die Nacht aber mal wieder ihren Bannstrahl auf Erika, und durch ihr Bewusstsein strömt die Vergänglichkeit und dass sie sich oft selbst nicht versteht. Das ist dann der Moment, an dem sie mit Gott streitet. „Schrei ich zu dir, so antwortest du mir nicht, trete ich hervor, so achtest du nicht auf mich“ (Hiob 30, 20). Hiobs Klagen sind ihr so nah und der Schmerz erschüttert ihre Brust. Heute fällt sie ins Bett und der Schalter der inneren Unruhe will sich partout nicht ausknipsen lassen. Von einer leidensgetriebenen Vehemenz durchflutet ärgert sie sich, dass der morgige Tag wohl durch die arge Nacht ihren Tatendrang hemmen wird. Sie spürt die gallige Milch einer aufziehenden Schwermut und tosender Ungeheuer; sie befürchtet, morgen den Faden, ihren Leit-Zwirn, zu verlieren. Im Dampf der verstimmenden Ahnung nachtwandelt sie durch ihre wenig tröstenden Tageserlebnisse. Erika findet keine Ruhe. Das Fernsehprogramm wiederholt plumpe Serien mit dem üblichen Happyend-Allerlei, eine Managerin erörtert in einer Talk-Show, wie sie ihr Burnout bewältigte, indem sie einfach mal alles losließ und zwei Monate auf Segeltörn auf den Seychellen war. Erika ist erschöpft von den Gedanken, die durch ihren

Kopf eine hintergründige Prozession anführen. Sie schnaubt wütend über diese mit Luxus geheilte Elite-Person und rührt verdrossen ihren Kamillentee mit Honig. Ihre bewährte Einschlafhilfe Honig wirkt heute nicht und auch die psalmodierten Einschlafregeln aus dem Meditationsseminar lassen sie wie von Scheinwerfern angestrahlt in einem gebrochenen Zustand zurück.

Nachmittags hatte sie sich mit ihrer Freundin zum Spazierengehen am Kleinhesseloher See getroffen. Später hatten sie noch in ein Restaurant einkehren wollen. So war es gedacht gewesen. Es hatte so geendet, dass sowohl Erika als auch ihre Freundin getrennt voneinander den Englischen Garten verließen. Erika verspätete sich wenige Minuten zum eigentlichen Treffpunkt, da sie noch unvorhergesehen etwas mit den Nachbarn besprechen musste. Die Freundin, manchmal eine ungeduldige, reizbare Dame, wartete mit wachsendem Verdruss auf ihre liebe Erika. Noch dazu begann es zu regnen, und Erika kam über fünfzehn Minuten zu spät. Als sie zu einer ehrlichen, wortreichen Entschuldigung ansetzen wollte und bekümmert die Schultern hängen ließ, beschied die Freundin brüsk, dass ihr nun die Lust auf einen Spaziergang vergangen sei.

„Schönen Tag noch“, meinte sie schnippisch, während sie vorwurfsvoll davon zog. Sie ließ sich auch nicht mehr durch Erikas Überredungsversuch mit einer Einladung auf Kaffee und Kuchen beschwichtigen und stürzte wutrotgesichtig im prasselnden Regen davon. Wie geblendet im Dunkel kam Erika die Erkenntnis, dass sie schon gerne nach ihren Wünschen durchs Leben tanzte und manchmal durch unvorgesehene Dinge, wie Plaudereien mit Nachbarn, Kollegen, die Peilung verlor. Die Freundin reagierte nun aber auch zu unbarmherzig, dachte Erika. Musste sich aber traurig eingestehen, dass sie bei der Freundin schon öfters den Pünktlichkeitsbogen überspannt hatte. Ein Nachtfalter setzte sich auf das kleine Kreuz, das sie seit Kindertagen besaß und das ihr in zerrissenen Stunden Hoffnung gab. Jetzt war die göttliche Einheit für sie wieder zu weit weg, das Rauschen in Erikas Kopf ließ sich nicht abstellen. Wie konnte sie nur die Freundin wieder für sich gewinnen? Ein Blumenstrauß wäre nur bedingt ein Argument und ein flüchtig hingekritzelter Brief würde die Freundin auch nicht beschwichtigen. Erika hoffte sehr, dass ihr jemand mit einer Flüstertüte am Ohr die Eingebung einträufelte, wie sie die doch angespannte Freundschaft wieder beleben könnte. Fingerspitzenund Taktgefühl wären hierfür notwendig. Aber Erika durchdrang die Ahnung, dass sie oft zu viel auf einmal wollte und durch den Druck sich erst recht eine aufgereizte Spannung entlud. Jetzt fiel ihr auch ein, dass sie schon lange nicht mehr in der Kirche, beim Gottesdienst war. Der letzte Pfarrer hatte sie auch sehr genervt, da er die Predigt mehr wie einen Warenhauskatalog vorlas.

Ihr Blick fiel auf die kleine Notiz, die aus ihrem Tagebuch fiel. Wie oft wollte sie die Telefonnummer schon wegwerfen. Aber vielleicht war es doch nun der beste Zeitpunkt für sie, an der Stelle anzurufen, bei der es hieß „Sorgen kann man teilen“ – rund um die Uhr. Draußen lispelten die Pappeln und obwohl die Autos rauschten, meinte Erika fast eine mystische Stille zu spüren, als sie die Nummer tippte.

Doris Weininger ist Ehrenamtliche der TS München ev.

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