Blickpunkt: Scham
„nicht normal bedeutet hässlich“
Von Claudia Lohse-Jarchow
Der Ausspruch stammt von Albert Einstein. Für ihn war Phantasie wichtiger als Wissen, da Wissen begrenzt sei. Und ein Goethe zugesprochenes Zitat – „Das Höchste, was ein Mensch erlangen kann, ist das Erstaunen“ – soll uns bei unserer Frage nach dem Wesen von Intuition unterstützen.
Bis es eben an die Tür unseres Hotelzimmers geklopft hat, war ich mir beinahe sicher, dass Nathalie* nicht zu diesem Interviewtermin erscheinen wird. Aber sie ist gekommen und jetzt ist sie da. Vor mir sitzt eine junge Frau in kurzen Jeans mit ausgefranstem Saum, an ihren Füßen stecken Flipflops und ihre schwarzen Haare führen ein Eigenleben um ihren Kopf. Nathalies Haut ist wolkig gemustert. Dunkle, sonnengebräunte Partien sind durchzogen von scharf abgegrenzten, weißen Arealen. Es ist schwer zu sagen, welcher Farbton das Vorrecht hat. Wie eine Landkarte. Nathalies Augen sind groß, schön und dunkel.
Wir befinden uns in Jordanien, in einer Hotelanlage am Toten Meer. Mein Mann Raymond Jarchow und ich sind hierher gereist, um an einem seelsorgerlich orientierten Foto-Interview-Projekt über das Leben mit der Weißfleckenkrankheit Vitiligo zu arbeiten. Hier treffen wir Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind, so wie Nathalie. Wir sind mit ihrer behandelnden Hautärztin, der Vitiligospezialistin Prof. Karin Uta Schallreuter, befreundet. Die Idee für unser Projekt haben wir zusammen mit ihr entwickelt. Wie jedes Jahr ist sie mit einer internationalen Gruppe von Patienten ans Tote Meer gefahren. Sie hat uns eingeladen, sie zu begleiten. Vitiligo ist eine Hauterkrankung, die sich durch den plötzlichen Verlust der natürlichen Hautfarbe auszeichnet.
Das ist Vitiligo. Dagegen gibt es nichts. Seien Sie nicht eitel. Ich behandle Leute mit viel schlimmeren Diagnosen. Kommen Sie darüber weg!
Das Ergebnis sind kreide- oder milchweiße Flecken unterschiedlicher Größe und Form. Vitiligo verursacht keine körperlichen Schmerzen, wird aber von den Betroffenen oft als enorm belastend und entstellend empfunden. Hinzu kommt die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung. In Indien zum Beispiel erfahren die Betroffenen eine ähnliche Ausgrenzung wie an Lepra Erkrankte. Vitiligo betrifft bis zu vier Prozent der Weltbevölkerung. Die Krankheit ist nicht ansteckend, ihre Ursachen sind unklar.
Viele Betroffene verdecken ihre Flecken durch Kleidung oder Schminke. Bis jetzt ist Vitiligo nicht heilbar. Therapieansätze für eine zeitweise Repigmentierung gibt es einige. Prof. Schallreuter erreicht den Wiedergewinn der Hautfarbe mit einer von ihr entwickelten Creme und spezieller UV-Bestrahlung. Für diese Behandlung bietet die klimatische Situation am Toten Meer besonders günstige Bedingungen. Auch im Erfolgsfall bedarf es jedoch der kontinuierlichen Weiterbehandlung am Heimatort.
Viele Patienten sind zum wiederholten Mal dabei, obgleich die Krankenkassen die Therapiekosten meist nicht tragen. Sich auf die Behandlung am Toten Meer einzulassen, bedeutet zweierlei:
Es heißt, sich auf einen Weg aus Hoffen und Bangen zu begeben um jedes der stecknadelkopfkleinen Pigmentpünktchen, die sich nach und nach zeigen: Wie viel wird „zugehen“? Welche Stellen bleiben weiß? – Manche Hautpartien repigmentieren schwierig, zum Beispiel die an Händen und Füßen.
Und es heißt, sich vor der Öffentlichkeit zu seiner Vitiligo zu bekennen. Denn während der Behandlung und in den folgenden Wochen dürfen die Patienten sich nicht schminken. Es würde den Therapierefolg zunichte machen. Der Weg zur ersehnten Unauffälligkeit bedeutet also die Auseinandersetzung mit der eigenen Auffälligkeit.
Vielleicht bin ich eitel. Aber eigentlich ist nur mein Selbstvertrauen verschwunden.
Dies kann im besten Falle eine wachsende Selbst- Akzeptanz zur Folge haben. Die Ausrichtung auf Hoffnung ist dafür ganz wichtig. Durch die ersten neuen Pigmente und die Aussicht auf weitere lassen sich die weißen Flecken und die Reaktionen darauf besser ertragen. Wichtig für die Patienten ist hier auch das Erleben ihrer stärkenden Gemeinschaft.
Nathalie ist zum ersten Mal am Toten Meer. Die weißen Flecken auf ihrer Haut tauchten auf, als sie achtzehn war. Heute ist sie fünfundzwanzig. Der Arzt schickte sie weg: „Das ist Vitiligo. Dagegen gibt es nichts. Seien Sie nicht eitel! Ich behandle Leute mit viel schlimmeren Diagnosen. Kommen Sie darüber weg!“ – Damit fing das Gefühl an, total allein zu sein. Nathalie weinte sich die Augen aus und verbarg sich. Denn es wurden immer mehr Flecken. Einzig ihrer Großmutter, auch von Vitiligo betroffen, konnte sie sich offenbaren – bis diese starb. Nathalie fing an, sich zu schminken. Auf einem Rucksackurlaub in Thailand bestand die Hälfte ihres Gepäcks aus den Utensilien dafür. Nicht einmal ihre Mutter kennt das tatsächliche Ausmaß der Krankheit.
„Es bestimmt mein ganzes Leben“, sagt Nathalie. „Wenn meine Familie mit mir schwimmen gehen will, sag ich: keine Lust.“
Sie arbeitet als Kellnerin in einem Club: nur nachts, immer geschminkt. „Ich gehe niemals tagsüber raus.“ Ich frage sie, welche Erfahrungen zu dieser Angst geführt haben, sich zu zeigen. Es sind viele. Wie Mosaiksteinchen ergeben sie ein unerträgliches Spiegelbild.
Da war ein Mädchen in der Bar. Unter der Schminke hatte sie einen Fleck erahnt und angeekelt gefragt: „Was, um Himmels Willen ist das da, an deinen Beinen?!“ Ein anderer Gast verzog nur angewidert das Gesicht. Ein Kollege sprach hinter ihrem Rücken darüber, wie unzumutbar ihr Anblick sei. „Ich will niemanden schockieren“, sagt Nathalie. „Ich komme aus einer Gesellschaft, in der ‚nicht normal‘ bedeutet, hässlich zu sein. Ich kann es nicht mehr ertragen, dass Leute mich anstarren. Vielleicht bin ich eitel. Aber eigentlich ist nur mein Selbstvertrauen verschwunden.“
Ich höre von Nathalies Leben mit Vitiligo. über Verzicht und Vermeidung versucht sie, eine größtmögliche Normalität zu realisieren. Die Angst, dass eine Berührung oder ein Regenschauer die Schminke verwischen, ist Nathalies ständige Begleiterin.
Die größte Herausforderung erwartete Nathalie am Toten Meer. Zum ersten Mal seit Jahren sah sie sich selbst im Spiegel, von Kopf bis Fuß, ohne Make-up. Der Schmerz traf sie mit voller Wucht, als sie die ganze Ausbreitung der Krankheit wahrnahm. Verzweiflung überkam sie.
Mich berührt Nathalies Konsequenz darin, anderen und sich selbst den Anblick ihrer Haut zu ersparen.
Den begonnenen Weg der Therapie weiter zu gehen, macht die Rückkehr in ihr altes Leben unmöglich. Sie wird sich zeigen müssen, ohne die Abdeckung durch Schminke.
Und so fragt sie sich, ob es das ist, was sie will: Eine Behandlung, die sie bloßstellen wird, um den neuen Pigmenten eine Chance zu geben. – Sie wird ihren Job in der Bar verlieren. Freundschaften werden auf die Probe gestellt. Ihr Leben wird aus den Fugen geraten. Und doch hat sie den Weg ans Tote Meer gewagt und ist ihrer Sehnsucht nach Veränderung gefolgt.
Mich berührt Nathalies Konsequenz darin, anderen und sich selbst den Anblick ihrer Haut zu ersparen. Sie hat Umwege gefunden, Wege des Verbergens: zunächst mühevoll, inzwischen aber viel leichter zu gehen als die Wege ans Licht des Tages. Mich berührt, dass wir Menschen offenbar auf diese Weise mit Scham umgehen: Wir suchen, durch Umwege der Konfrontation mit dem gefürchteten Teil unseres Selbst zu entrinnen. Zuweilen ist das überlebenswichtig. Aber irgendwann führt es uns vor allem am Leben vorbei. Ich begegne Nathalie, als sie im Begriff ist, ihre Umwege zu verlassen und den direkten Weg zu wagen. Davor hat sie Angst. Sie hat Angst vor dem, was ihr begegnen wird: vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit und dem schonungslosen Blick der Welt. Sie hat Angst vor Traurigkeit: eigener und fremder, zum Beispiel der ihrer Mutter. Ich frage sie, ob es jemanden gibt, von dem sie sich angenommen fühlt, wie sie ist. Da ist ihre Nichte. Die Kleine hat bemerkt, dass Nathalies Haut weiße Flecken hat. Sie hat es zur Kenntnis genommen und gesagt: „Das ist O.K.“
Plötzlich zeichnet sich für mich eine Verbindung auf, von der Großmutter zur Nichte. Und ich begreife: Wenn wir das Wagnis eingehen wollen, uns der Welt zu zeigen, sind wir angewiesen auf Menschen, die uns in Liebe anschauen. Wenn wir ihnen gestatten, uns zu sehen, wie wir sind, wird es uns möglich, uns selbst zu lieben und die lieblosen Blicke auszuhalten, vor denen wir uns fürchten.
* Name geändert
Mehr Informationen unter:
www.zeitanschauen.de
www.vitiligo.eu.com
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