Ausgabe 9 / Dezember 2019

Blickpunkt

MYTHOS

Ausgabe 9 – Dezember | Januar | Februar | März

Streifzug durch die Mythen von Psychotherapie und Beratung

Seelsorge – ob am Telefon, im Chat oder in der Mail – wird immer auch beeinflusst von den Theorien der Psychologie, die gerade im Vordergrund stehen. Die haben sich im Laufe der letzten fünfzig Jahren immer wieder gewandelt. Ich möchte Sie mitnehmen auf einen biografischen Streifzug durch die Landschaft der Mythen von Psychotherapie und Beratung.

Der Mythos von der segensreichen Klärung

„Mit meinem Freund kann ich nichts klären!“ schreibt eine junge Chatterin und katapultiert mich in die siebziger Jahre. Da gab es immer weniger Vorgaben, junge Menschen konnten ohne Trauschein zusammenziehen, die Pille ermöglichte ein angstfreies Liebesleben, in den WGs versank man oft mehr in Klärungsgesprächen, als dass man an Abwasch und Einkauf dachte.

Auch heute ist Konfliktlösung durch Mediation und Klärung der inneren Welten wichtig. Aber wir wissen auch, dass es Konflikte und Probleme gibt, die sich in einfachen Klärungsgesprächen nicht lösen lassen. Der gut gemeinte Rat „reden Sie miteinander“ ist nicht immer der richtige Weg.

Der Mythos von der emotionsgeführten Spontaneität

Carl Rogers stellte die gegenseitige Wertschätzung in den Mittelpunkt seines Ansatzes und entwarf mit der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte und dem Gebot der Authentizität einen heilsamen Beratungsrahmen. Der Ausdruck von Emotionen sollte zum wahren Selbst führen. In Esalen in Kalifornien wirkte Fritz Perls, Gründer der Gestalttherapie, wie Rogers ein Vertreter der humanistischen Psychologie. Wichtig war ihnen, sich von den alten Autoritäten und ihren internalisierten zerstörerischen Botschaften zu lösen. Katharsis war der Schlachtruf. Und der Mythos hieß: Sei spontan! Sei authentisch! Werde endlich der oder die, als der oder die du gedacht bist!

Wer wie ich eher ein introvertiertes Selbst sein eigen nennt, fühlte sich in Encounter- oder Gestaltgruppen oft falsch. Ich erinnere mich daran, wie ich nichts Verwerfliches an der Erziehung meiner Mutter fand und schließlich in einer solchen Gruppe verzweifelt rief: Meine Mutter war völlig in Ordnung! Und ich berichtete, wie sie sich in den Luftschutzkellern über uns gebeugt und uns Geschichten erzählt hatte, damit wir das Dröhnen der Bomber und die Schreie der Menschen nicht hörten. Aber das wollte niemand hören, der Mythos von den die eigene Entwicklung behindernden Autoritäten war zu groß. Auch mit dem Spontan-Sein hatte ich so meine Schwierigkeiten, war ich doch als braves Mädchen erzogen worden und fühlte mich seit jeher mit nur einer Freundin wohler als in einer Gruppe. Da hatten es die Extravertierten leichter. Zu sein wie sie, spontan, gefühlvoll und authentisch war das Entwicklungsziel. Heute weiß man, dass viele Künstlerinnen und Wissenschaftler introvertiert sind.

Der Mythos vom simplen Verlernen problematischer Verhaltensweisen

An den Universitäten begann zugleich die Verhaltenstherapie ihren Siegeszug. Endlich, so glaubte man, wurde die psychologische Forschung wissenschaftlich. Die Verfahren basierten auf der Lerntheorie. Der Mythos lautete schlicht: Störendes Verhalten ist erlernt und kann also wieder verlernt werden. Auch in der Didaktik der Lehrerausbildung regierte inzwischen der an Lernzielen orientierte Unterricht.  Alles was sich im Menschen ereignete war eine Black-Box und letztlich nicht durchschaubar. Die intuitive Vorgehensweise der Tiefenpsychologie stand  als unwissenschaftlich am Pranger. Wer jetzt noch Träume deutete, sich auf die Psychoanalytiker-Couch legte, vom C.G. Jungschen Schatten sprach, galt als irgendwie verschroben.

Dennoch, in der seelsorgerischen Beratung ist die Übertragung im psychoanalytisch gedeuteten Beratungsgeschehen immer wieder Thema. Wenn Sie sich in Ihre Anrufer, in Ihre Chatterinnen oder Mailer einfühlen, dann sind Sie auch in Gefahr, in deren Konstruktion von Wirklichkeit hineingezogen und angesteckt zu werden. Gar manche Angst, gar manche Wut oder manches „Genervt-Sein“ rührt aus dieser Gegenübertragung.

Der Mythos von den brachliegenden Ressourcen

In den späten achtziger und den neunziger Jahren gab es einen gewaltigen Paradigmenwechsel. Man sah in der psychologischen Diagnostik und Therapie nicht mehr auf die Defizite, sondern auf die Ressourcen. Ich nahm damals in jede meiner Fortbildungen eine Handpuppe mit, eine Raupe, deren Reißverschluss sich öffnen ließ. Es kamen wunderschöne bunte Flügel zum Vorschein, die unscheinbare Raupe wandelte sich zum strahlenden Schmetterling. Was im Grund schon Carl Rogers und mit ihm alle Schulen der humanistischen Psychologie gelehrt hatten, dass nämlich Jeder alle Fähigkeiten, seine Probleme zu lösen, in sich trägt (Rogers nannte das die Aktualisierungstendenz), das wurde nun von den lösungsorientiert arbeitenden Therapeuten und Beratern zum  Credo erhoben: Der Klient ist der Experte für seine Heilung und die Therapeutin stellt nur noch die richtigen Such-Fragen nach den Ressourcen. So lautet die heilbringende Formel. Manchmal wird dabei vergessen, dass Weinen und Klagen erst einmal Erleichterung schaffen. Wenn Trost- und Hilfe-Suchende uns  als Klagemauer sehen und all unsere gut gemeinten Äußerungen ablehnen, dann kann der Blick auf das, was schon einmal gelungen ist, im Leben ausgesprochen hilfreich sein. Ob sich dann jede Raupe in einen Schmetterling verwandelt, das mag dahin gestellt bleiben, aber allein die Vorstellung ist eine gute Begleiterin für die Seelsorge.

Der Mythos von der Heilung des sozialen Systems

Gleichzeitig erblühte seit dem Ende der achtziger Jahre auch die Familientherapie unterschiedlichster Provenienz. War ein Kind auffällig, dann war es nur der sogenannte Indexpatient, und die Ursache seiner Schwierigkeiten wurde in der Familie gesucht. Die Familie als soziales System war in Unordnung geraten, hier musste die Intervention ansetzen und die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern verbessern. Es galt, das zirkuläre Fragen zu erlernen (Was, glauben Sie, geht in Ihrer Frau vor, wenn der Maxi sich weigert, seine Hausaufgaben zu machen?), um zu zeigen, wie alle an der Entstehung eines Problems beteiligt waren.

Meine Kolleginnen und ich hatten uns gerade zu einer mehrjährigen Kindertherapieausbildung nach dem Modell der humanistischen Psychotherapie verpflichtet und waren verzweifelt. Nach dem systemischen Ansatz galt es plötzlich nicht mehr, sich in das Kind einzufühlen, dieses zu stärken und seine Entwicklung wieder in Gang zu bringen, nein, nun sollte allein der Familie unsere Aufmerksamkeit gelten und das Kind lief da irgendwie mit. Unser Ausbilder hörte sich  unser Leid an und bat dann, ihm unsere Wasser- und Saftflaschen auszuhändigen. Diese stellte er als Familie auf, bedachte Nähe und Distanz, verrückte hier und da die Flaschen und zeigte sich als distanzierter Magier, der die Mitglieder einer Familie umordnete. Wie anders war dies als unser personzentriertes Vorgehen, das uns in den kindertherapeutischen Supervisionen hatte Tränen vergießen lassen. Wir verstanden rasch, dass beide Sichtweisen, die personzentrierte und die systemische, wichtig waren und dass unsere Interventionen auf verschiedenen Ebenen erfolgen mussten – und waren getröstet. Die Familientherapie hat viele Mythen geschaffen. Einer davon war, dass nicht die Kinder, die nicht allein einschlafen wollen, Hilfe brauchen, um das innere Angstmonster zu besiegen. Vielmehr liege das Problem bei den Eltern, die das Kind im Schlafzimmer brauchten um sich nicht miteinander beschäftigen zu müssen und so das leidige Thema Sex unters Elternbett verbannen konnten. Wer familientherapeutisch ausgebildet war, kannte für jedes Problem die passende Schablone.

Der Mythos von Salutogenese und Resilienz und was den Menschen gesund macht

Später wurde der psychologische Blick weg von der Verwundbarkeit des Menschen hin auf seine Fähigkeiten gelenkt. Nicht mehr die Pathogenese wurde beforscht, also das, was zur Krankheit führt, sondern die Salutogenese, das, was die seelische Gesundheit fördert. Ich erinnere mich, dass ich in Dillingen, der Hochburg der bayerischen Lehrerfortbildung, ein Seminar über Lehrergesundheit halten sollte und zu diesem Zweck Lehrerinnen und Lehrer in ihren letzten Dienstjahren interviewte. Ich fragte nicht danach, was ihnen beschwerlich geworden war und wo sie sich Hilfe und Erleichterung wünschten, sondern wollte von ihnen wissen: Was, liebe Kollegin, lieber Kollege, hat Sie solange durchhalten lassen? Was da kam, und es war eine Menge, konnte dann sozusagen als Eigenbluttherapie im Seminar empfohlen werden.

In dieselbe Richtung geht der Blick auch bei dem Zauberwort Resilienz, das schlicht seelische Widerstandsfähigkeit heißt. Hatte man doch beobachtet, dass es Kinder gab, die in den schwierigsten Familienverhältnissen aufwuchsen, die Krieg und Traumata erlebt hatten und deren Wunden schnell heilten. Allerdings wurde die Förderung der Widerstandsfähigkeit immer wieder auch heftig kritisiert und als Neoliberalismus in der Psychotherapie bezeichnet. Aber im  gesellschaftlichen Trend spielt die Selbstoptimierung mit all ihrem Stress eine große  Rolle. Auch in der TelefonSeelsorge ist dieses Thema präsent, und mein Mantra lautet dann oft: Im Schaufenster der Selbstdarstellung wird gewaltig gelogen!

Psychotherapie und Religion, ein Blick auf die Mythen der Spiritualität

In den Zeiten des psychotherapeutischen Aufbruchs wurden religiöse Bindungen als eher kontraproduktiv angesehen, das Thema war im therapeutischen Setting ein Tabuthema. Im Zuge der Ressourcenorientierung hat sich der Blick auf Spiritualität als protektive Bewältigungsstrategie gewandelt. Die Forschungstätigkeit untersucht heute in immer neuen Designs, wie spirituelle Inhalte und Methoden bei der Behandlung psychischer Störungen eingesetzt werden können. Man denke nur an die Achtsamkeitsübungen, für die sich bereits Fritz Perls mit seinem Ansatz im Hier und Jetzt beim Buddhismus und seiner Meditationspraxis bedient hat. Über das große Spektrum therapeutischen Wissens der Religionen darf in Psychotherapie und Beratung wieder gesprochen werden. Hier findet auch die vom christlichen Menschenbild geprägte TelefonSeelsorge ihren guten Platz.

Es gibt keine klare Abgrenzung von Beratung, Psychotherapie und Seelsorge. Die Bereiche überlappen einander in ihrem Bemühen, Menschen in ihrem Alltag zu entlasten und Heilungsprozesse in Gang zu setzen. In meinen vielen Jahren ehrenamtlicher Arbeit bei der TelefonSeelsorge habe ich die Seelsorge für mich als menschliche Zuwendung definiert, die ihre segensreiche Wirkung oft dann zu entfalten vermag, wenn Psychiatrie und Psychotherapie an ihre Grenzen gestoßen sind. Wenn mir niemand mehr zuhört, wenn mir gesagt wird, dass ich austherapiert bin und man mir nicht mehr helfen kann, dann gibt es immer noch das offene Ohr des Telefonseelsorgers oder der Telefonseelsorgerin.

 

Dr. Christine Kaniak-Urban
Mitarbeiterin der katholischen TelefonSeelsorge München,
Schulpsychologin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin,
Lehrerin, Autorin mehrerer psychologischer Ratgeber

 

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